AMNESTY Magazin Nr. 110, Juni 2022

Türkei

Schmutziger Müll,
schmutzige Jobs

Dass der Export von europäischem Plastikmüll immense Umweltprobleme in den Ländern verursacht, die ihn verarbeiten, hat sich inzwischen herumgesprochen. Kaum bekannt ist, dass dabei auch Geflüchtete ausgebeutet werden.

Text von Nicole Graaf
Fotos von Emre Çaylak

Ismail* sieht müde aus. Im Jogginganzug sitzt er in seinem Wohnzimmer, einem schmalen Raum, möbliert mit zwei abgenutzten beigefarbenen Sofas, in der Ecke hinter der Tür steht eine kleine Elektroheizung. Ismail ist ein schmächtiger Mittdreissiger mit Schnauzbart und schwarz umrandeten Fingernägeln. Er arbeitet in einer der vielen Recyclingfabriken von Adana im Süden der Türkei. «Vor ein paar Tagen musste ich eineinhalb Stunden lang im kalten Wasser stehen, um das Becken der Maschine zu reinigen», sagt er mit heiserer Stimme. Nach jedem Satz zieht er die Nase hoch. «Ich bin krank, aber der Chef drängt mich, trotzdem zur Arbeit zu kommen.»

Seine Frau Fatma bringt ein Tablett mit Tee, setzt sich neben ihn und zündet sich eine Zigarette an. Sie ist Mitte 20 und hat ein schmales, fast kindliches Gesicht, die Augen sind mit Kajal umrandet. Ihr weisses Kopftuch hat sie nach syrischer Mode leicht übers Kinn gezogen und eng am Hinterkopf festgesteckt. Die beiden Söhne, acht und fünf Jahre alt, spielen mit dem Handy der Mutter.

Fatma arbeitet in derselben Firma. Sie sortiert mit anderen Frauen Ballen mit Plastikabfällen, während Ismail an der Maschine steht, einem rund 50 Meter langen und hoch aufragenden Konstrukt aus Trichtern, Wannen und Förderbändern. Dort füllt er das vorsortierte Plastik ein, gibt erst Wasser in das Waschbecken und fügt dann Öl und Säurepulver hinzu, um das Material aufzuweichen. In der Maschine wird das Plastik zu kleinen flachen Plättchen geschmolzen, dem Rezyklat, das als Rohmaterial an Kunststofffabriken geht.

«In der Pause können wir nur schnell etwas essen», sagt Ismail. «Wir bekommen ein bisschen Brot und Käse, einige Oliven, das ist alles. Dann geht es weiter. Unseren Tee müssen wir zwischen all dem Dreck an der Maschine trinken.»

Vor sechs Jahren befanden sich an den Rändern des Industriegebiets von Adana noch Brachflächen und Gemüsefelder. Jetzt reiht sich dort eine Recyclingfabrik an die nächste. Der Boom dieses Industriezweigs in der Türkei hängt mit der Umweltpolitik in Europa und den Preisen für Rohöl zusammen: Bis 2035 will die EU 65 Prozent der Abfälle aus Haushalten recyceln. Weil so manches von Hand vorsortiert werden muss, ist europäischen Müllverwertern das Recycling zu teuer. Deshalb verkaufen sie es in Billiglohnländer. Zunächst ging der europäische Müll vor allem nach China, bis das Land 2017 einen Importstopp verhängte. Inzwischen ist die Türkei der grösste Importeur. Für die Kunststoffproduzenten lohnt es sich, statt Rohöl Rezyklat zu verwenden, auch aufgrund der steigenden Ölpreise. Um Rezyklat möglichst billig herstellen zu können, beschäftigen Recyclingfirmen Menschen wie Ismail und Fatma. Ismail bekommt umgerechnet 52 Franken pro Woche, Fatma 46 Franken. Ihr Lohn entspricht zwar dem türkischen Mindestlohn, aber Ismail und Fatma arbeiten ohne Sozialversicherung, sprich: illegal.

 

Drecksarbeit für Europa

Vor ein paar Jahren hat sich Ismail verletzt, als ein Ballen von einem Stapel rutschte. Weil er danach einige Wochen lang nicht arbeiten konnte, musste er sich Geld leihen. «Mein Chef hat mir 300 Lira gegeben. Das reichte hinten und vorne nicht», meint Ismail. Die Summe entsprach damals etwa 42 Franken, etwa zehnmal so viel schuldet er immer noch einem Bekannten, deshalb arbeitet Fatma mit. «Ich wäre lieber Hausfrau und würde mich gerne um die Kinder kümmern, aber was mein Mann verdient, reicht nicht», sagt sie mit Trotz in der Stimme. Während die Eltern arbeiten, sind die beiden Kinder bei einer Nachbarin. «Mein Ältester ist acht, er sollte zur Schule gehen», sagt Fatma. «Aber das können wir uns nicht leisten.»

Vier Millionen Geflüchtete leben in der Türkei, davon 3,6 Millionen Syrer*innen. Nur etwa ein Prozent von ihnen bekommt eine Arbeitserlaubnis. Rund eine Million Syrer*innen arbeiten im informellen Sektor, vor allem in der Landwirtschaft, in Textilfabriken, auf dem Bau und in Restaurants. Wie viele im Recyclingsektor arbeiten, ist unklar, aber im Gewerbegebiet von Adana sieht man sie überall.

«Mein Chef sagt, dass er uns Syrer einstellt, um uns zu helfen», erzählt Ali. Der 30-Jährige mit dem freundlichen runden Gesicht arbeitet in einem Depot, in dem Müll sortiert wird. Derzeit ist er dort der einzige Syrer. «Bis vor Kurzem waren wir zu sechst», sagt er. Ausser ihm und einem älteren Mann waren es Kinder. «Sie waren elf oder zwölf Jahre alt, kamen ein paar Tage und dann wieder nicht – immer nur dann, wenn ihre Familien Geld brauchten.» Ali sitzt am Fenster seiner kargen 2-Zimmer-Wohnung in Sakirpasa, einem Armenviertel von Adana. Seine Arbeitsstelle kann er zu Fuss erreichen, vorbei an Häusern aus tristem Beton.

Ali spricht ruhig und sachlich – auch über den Bombenangriff in Syrien, bei dem er schwer verletzt wurde. Weil er mit dem rechten Arm nicht mehr arbeiten kann, wollte ihn in der Türkei zunächst niemand einstellen. Er sammelte Plastikmüll aus Mülleimern und verkaufte ihn an Recyclingfabriken. Bei einer fand er schliesslich einen Job. Jetzt sortiert er Plastik nach Farben und danach, ob die Maschine es verarbeiten kann. Er verdient umgerechnet fünf Franken am Tag. Wegen der hohen Inflation in der Türkei reicht das magere Gehalt kaum für Lebensmittel. «Mein Chef sagte, du kannst nur mit einer Hand arbeiten, deshalb bekommst du nur die Hälfte», sagt er. Ali ist auf den Job angewiesen, aber die meisten blieben nur ein paar Tage: «Sie halten den Gestank nicht aus. Er ist schädlich für die Lunge.» Plastikprodukte enthalten oft chemische Zusatzstoffe, die sich im Zersetzungsprozess lösen. «Wegen meines Asthmas leide ich manchmal unter Kurzatmigkeit, wenn ich mit dem Plastik arbeite », sagt Ali. Woher das Material stammt, das in der Fabrik verarbeitet wird, weiss er nicht. Er vermutet, es sei Haushaltsmüll aus der Umgebung von Adana.

Ismail arbeitete bis vor einigen Monaten bei einer grossen Firma, die Plastikabfall aus dem Ausland importierte. Manchmal seien ausländische Prüfer*innen gekommen, um die Maschinen und die Arbeitsverträge zu kontrollieren, erzählt er. Die Kontrollen seien angekündigt gewesen. «Als einmal eine Gruppe aus Deutschland kam, mussten wir bis Mitternacht die ganze Fabrik putzen und durften uns dann nicht blicken lassen, bis der Vorarbeiter uns anrief.»

Nervöse Branche

«Die meisten grösseren Firmen kaufen Abfallmaterial aus Europa», berichtet ein Umweltingenieur einer Recycling-Fabrik, der nicht namentlich genannt werden möchte. Seine Firma kaufe vor allem Material aus Israel und Deutschland. «Dort wird der Plastikabfall gut vorsortiert, die Qualität ist besser als beim Abfall, den wir in der Türkei bekommen.»

In der Fabrikhalle neben seinem Büro reissen Arbeiter die mannshohen Ballen, in denen das Material zusammengeschnürt angeliefert wird, mithilfe eines Gabelstaplers auseinander. Vier Frauen sammeln das lose Material auf und werfen es auf das Förderband einer Maschine, die die halbe Halle ausfüllt. «Die Arbeiter*innen bitte nicht aus der Nähe fotografieren», sagt der Ingenieur. Der Grund ist offensichtlich. Auch hier wird ohne Arbeitsbewilligung gearbeitet.

Die Branche ist nervös. Immer wieder beklagen sich Umweltschützer*innen und Anwohner*innen darüber, dass die Recyclingfirmen die Natur zerstören. Denn die nicht verwertbaren Reste landen auf Brachflächen. Ein beliebter Abladeplatz ist der Kanal, der durch das Gewerbegebiet fliesst. Er führt südlich von Adana in den Fluss Seyhan, der ins Mittelmeer mündet. Auf zwei Quadratkilometern um den Kanal liegt Plastikmüll. Manche Haufen glimmen vor sich hin. Das Wasser wirft Schaumblasen. Plastikschnipsel und verbrannte Reste treiben darin. Die Etiketten auf den intakten Verpackungen am Ufer verraten deren Herkunft: Hundefutter aus Grossbritannien, Mineralwasser aus Schweden, Schnittkäse aus Österreich, Tiramisu aus Polen. Aus Deutschland: Orangensaft von Aldi und Pizza von Dr. Oetker.

Ismail weiss, wie der Müll dort hingekommen ist. Bei seinem früheren Arbeitgeber musste er den aussortierten Restmüll alle paar Tage auf einen Lastwagen laden und zum Kanal fahren, stets nach Einbruch der Dunkelheit. «Wir haben ihn entlang des Ufers verteilt und angezündet », sagt er. «Bei der nächsten Fuhre haben wir dann die Reste in den Kanal geschaufelt.» Dabei sei der Müll so verteilt worden, dass das Wasser ihn wegspülte. «Die Reste von der Müllabfuhr abholen zu lassen, hätte die Firma bezahlen müssen», sagt Ismail und zieht verächtlich die Augenbrauen hoch.

Im Mai 2021 veröffentlichte Greenpeace einen Bericht über die Umweltverschmutzung in Adana. Kurz darauf stoppten die Behörden den Import der häufigsten Sorten von Plastikabfall. Die Recyclingfirmen mussten nachweisen, dass sie nach geltenden Umweltstandards arbeiten. Doch trotz des Annahmestopps haben die Importe mittlerweile wieder fast das alte Niveau erreicht.

Legale Jobs wären nötig

Mit einem Importverbot ist den Arbeiter* innen ohnehin nicht geholfen, denn dann greifen die türkischen Recyclingfirmen auf heimische Plastikabfälle zurück, was die Arbeit erschwert. Weil für die Haushalte kein Trennsystem existiert, landen Plastikverpackungen, Essensreste und alles andere in derselben Tonne.

Bei der grossen Firma, die den Abfall importiert habe, sei das Material ziemlich sauber gewesen, erzählt Ismail. Da, wo er jetzt arbeite, komme hingegen oft richtig dreckiger Müll an – alles aus der Umgebung, vermutet er. «Der Gestank dringt sogar in den Pausenraum. Selbst mit zehn Atemschutzmasken würde man ihn immer noch riechen.» Ausserdem arbeite die Firma sowieso gesetzwidrig, erzählt er. Sogar der Strom werde illegal abgezapft. Er zeigt ein Video auf seinem Handy, das zeigt, wie ein Gabelstapler angelieferte Müllballen auseinanderreisst. Dünne farbige Tüten hängen in Fetzen heraus, aus dem Inneren steigt eine Dunstwolke.

Das Einzige, was Menschen wie Ismail, Fatma und Ali helfen würde, sind legale Jobs und bessere Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Doch würde die Türkei den Geflüchteten eine Arbeitserlaubnis erteilen, würde sie die eigene Bevölkerung gegen sich aufbringen. Angesichts von 36 Prozent Inflation und 22 Prozent Jugendarbeitslosigkeit sehen mehr und mehr Menschen die Geflüchteten als Konkurrenz. Es kommt vermehrt zu Gewalt gegen Geflüchtete.

Was bleibt, ist die Verantwortung der Exportländer und der Entsorgungsbetriebe: Sie müssten aufhören, bei ihren Geschäftspartner*innen im Ausland Umweltverschmutzung und die Ausbeutung von Arbeiter*innen zu dulden.   

 

 

Die Recherche wurde unterstützt durch ein Stipendium von journalismfund.eu

* Die Namen der syrischen Protagonist*innen wurden zu ihrem Schutz geändert.  

 

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