AMNESTY Magazin Nr. 111, August 2022

Indigene völker

Der lange weg der heilung

Geschlagen, gedemütigt, missbraucht: Bis 1996 wurden in Kanada Tausende indigene Kinder von ihren Eltern getrennt und in Internatsschulen nach westlichem Vorbild erzogen. Ein Besuch vor Ort zeigt die langwierigen Folgen der Residential Schools auf.

Von Natalie Wenger

Es ist einfach, die drei Tafeln zu übersehen. Ich selbst wäre fast daran vorbeigegangen, obwohl ich nur ihretwegen quer durch die kanadische Provinz Nova Scotia ins kleine Dorf Shubenacadie gefahren bin. Einzig das Plakat mit der Aufschrift «Every Child Matters» – «Jedes Kind zählt» – vor dem Haus am Anfang der Schotterstrasse deutet darauf hin, dass ich am richtigen Ort bin. Zugegeben, ich bin enttäuscht.

Drei Tafeln mit sechs Sätzen in fünf Sprachen reichten der kanadischen Regierung anscheinend, um das Elend zu beschreiben, das über tausend indigene Kinder am Standort der ehemaligen Shubenacadie Indian Residential School erlebten. Vom dreistöckigen Backsteingebäude der Internatsschule, wo indigenen Kindern zwischen 1930 und 1967 ein westliches Lebensmodell aufgezwungen wurde, ist nichts mehr übrig. Stattdessen steht auf der Anhöhe nun ein blaues Gebäude der Firma Scotia Plastics, eines lokalen Plastikherstellers. Ich vermute, dass der Ort anders aussehen würde, wenn er für die Geschichte der weissen Kanadier*innen relevant wäre. Die indigenen Kinder, die hier durch die Hölle gingen, hätten mehr verdient. Die, die überlebten, und die, die hier gestorben sind.

Die Schule in Shubenacadie ist nur eine von insgesamt 139 Institutionen in Kanada, die von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1996 in Betrieb waren. Mehr als 150 000 Kinder der First Nations – wie Indigene in Kanada genannt werden – wurden in dieser Zeit von ihren Eltern getrennt und in Internate gesteckt, die mehrheitlich von der kanadischen Regierung und der katholischen Kirche betrieben wurden. In den Schulen sollten die Kinder «zivilisiert» und in die kanadische Gesellschaft assimiliert werden. Sie wurden gezwungen, Englisch zu sprechen, zu beten, mussten schwere körperliche Arbeit verrichten und wurden vielfach misshandelt.

«Das Ziel dieser Institutionen war es, das indigene Erbe der Kinder zu zerstören», sagt Guy Freedman, ein Berater für indigene Angelegenheiten. Die Kinder seien behandelt worden wie «Wilde, die erzogen werden mussten». Die Praxis der Residential Schools wurde 2015 vom obersten Gerichtshof Kanadas als kultureller Völkermord gegen die Indigenen eingestuft. Momentan wird in mehreren Schulen nach den Überresten der Kinder gesucht, die nicht lebend aus den Schulen kamen. 

 

Die kanadische Regierung hat sich mit einigen Gedenktafeln begnügt, um an die traurige Vergangenheit der Internate zu erinnern, die dazu bestimmt waren, die Kinder der Ureinwohner zwangsweise zu «zivilisieren».

©Natalie Wenger/AICH

Ob aus Misstrauen oder Scham, die Überlebenden haben lange Zeit über ihre Geschichte geschwiegen. In den letzten Jahren hat sich der Trend jedoch umgekehrt. Insgesamt haben nicht weniger als 15’000 Personen Klage gegen die Residential Schools eingereicht.

©KEYSTONE/Andrew Vaughan/The Canadian Press via AP

Das Schweigen durchbrechen

Bis in die 1990er- Jahre wurde die Geschichte der Residential Schools von der kanadischen Regierung vertuscht. Wenn Überlebende öffentlich über ihre Erlebnisse berichteten, wurden sie belächelt, ihre Aussagen wurden als Hirngespinste abgetan. Guy Freedman ist sich sicher, dass das Misstrauen und die eigene Scham viele Überlebende davon abgehalten haben, ihre Geschichte zu erzählen. Er selbst und viele Angehörige der First Nations verdanken es heute unter anderem dem Mut eines einzelnen Mannes, dass das düstere Kapitel in Kanadas Geschichte schlussendlich aufgearbeitet wurde: Phil Fontaine.

Phil Fontaine, ein regionaler Häuptling aus Manitoba, der später Vorsitzender der Versammlung der First Nations in Kanada wurde, sprach im Jahr 1990 zum ersten Mal öffentlich über den körperlichen und sexuellen Missbrauch, den er in der Fort Alexander Indian Residential School in Winnipeg erlebt hatte. In einem Interview von 1990 mit dem kanadischen Fernsehsender CBC sagte er: «Die Aufarbeitung des Missbrauchs und die Dokumentation dieser kollektiven Erfahrung sind wichtig, damit wir nie vergessen, was passiert ist. Aber auch, um einen Prozess einzuleiten, der unserem Volk hilft zu heilen.»

Phil Fontaines Mut führte dazu, dass immer mehr Überlebende über ihre Erfahrungen sprachen. Bis 2007 reichten 15 000 Personen eine Klage wegen sexuellen und körperlichen Missbrauchs an den Residential Schools ein. Die Regierung konnte nicht mehr länger wegsehen: 2008 entschuldigte sich der ehemalige Premierminister Stephen Harper für die Politik der Assimilation, die sich bis heute negativ auf indigene Gemeinschaften auswirkt. Im selben Jahr nahm die Truth and Reconciliation Commission (TRC) ihre Arbeit auf, welche die Geschichte der Residential Schools aufarbeiten sollte. Über 6500 Überlebende erzählten der TRC ihre Geschichte und enthüllten erschütternde Details über das Leben in den Residential Schools.

Rose Marie Prospers, William Henry, Alan Knowchwood und Joanne Morrison Methot gehören zu den wenigen Überlebenden der Schule in Shubenacadie, die der TRC von ihren Erfahrungen erzählten. Viele andere nahmen ihre Geschichte mit ins Grab.

 

Überlebende der Residential Schools leiden bis heute unter dem Erlebten. © Reuters/Blair Gable

Je näher man dem Reservat Sipekne’katik kommt, desto kleiner und verfallener werden die Häuser.

© Natalie Wenger/AICH

Rose Marie Prospers erste Aufgabe in der Schule von Shubenacadie war es, die Treppe zu putzen. «Ich musste die Stufen fegen und darauf achten, dass kein Sandkorn mehr zwischen den kleinen Läufern war. Sie kontrollierten alles, was wir taten. Es musste perfekt sein. Wenn nicht, mussten wir es noch einmal machen.»

William Henry wurde von einer Mitarbeiterin dabei erwischt, wie er mit seinem Bruder in der Sprache Mi’kmaq sprach. «Sie nahm einen Stock. Sie drückte mich gegen die Badewanne, packte mich am Hals. Ich weiss nicht, wie viele Schläge sie mir verpasste. Ich weinte. Dann nahm sie ein Stück Seife und wusch mir damit den Mund. Ich kann die Seifenlauge heute noch schmecken.»

Auch Alan Knockwood, ebenfalls ein ehemaliger Schüler in Shubenacadie, erinnerte sich daran, dass er mit dem Riemen geschlagen wurde, nur weil er in seiner eigenen Sprache gesprochen hatte: «Ich wurde von einem Klosterbruder erwischt und festgezurrt, dann kamen die Schläge. Mein Cousin Ivan musste mich beim Abendessen füttern, weil meine Hände wegen der Schläge mit den Riemen so geschwollen waren.»

Joanne Morrison Methot erlebte, wie ihre Mitschüler*innen misshandelt wurden: «Ich habe gezählt. Ein Mädchen wurde 45 Mal festgeschnallt, geschlagen, gezüchtigt. Dann war ich an der Reihe, ich bekam Prügel, aber ich habe nicht geweint.»

Mehrere Überlebende berichten von sexueller Gewalt. Ein Mädchen starb aller Wahrscheinlichkeit nach 24 Stunden, nachdem sie missbraucht worden war. Insgesamt sind mindestens 16 Kinder in Shubenacadie noch während der Schulzeit gestorben.

Vom Staat benachteiligt

Viele der Überlebenden leiden bis heute unter den damaligen Erlebnissen. Das zeigt auch ein Besuch im an die ehemalige Schule von Shubenacadie angrenzenden Reservat. Die Strasse wird mit jedem Kilometer holpriger, als wir uns dem Reservat nähern. Die Tankstelle kurz vor dem Eingang des Reservats ist heruntergekommen, die Benzinpreise sind fast doppelt so hoch wie im Rest des Bundesstaates Nova Scotia. Die Häuser werden kleiner, baufälliger. Wie bei vielen Reservaten ist auch der Eingang zu Sipekne’katik, wie das Reservat in der Sprache der Indigenen heisst, von Cannabis-Shops gesäumt. Viele Indigene verdienen seit Jahrzehnten mit dem Cannabis-Handel ihr Geld. Seit Kanada Cannabis Ende 2018 landesweit legalisiert hat, ist das Geschäft jedoch schwieriger geworden. 

«Viele Bewohner*innen leben in Armut, die Arbeitslosigkeit ist hoch», sagt Chief Mike Sack. Sack hält wenig von der Regierung in Ottawa. «Eine Entschuldigung ist zwar eine nette Geste, doch ohne Veränderungen ist sie nichts wert», sagt er. Premierminister Justin Trudeau hatte 2015 versprochen, die Versöhnung mit der indigenen Bevölkerung voranzutreiben und die 94 Vorschläge der TRC, wie das Übel wiedergutgemacht werden könnte, umzusetzen. Laut Sack ist dies bloss ein Versprechen geblieben. «Trudeau interessiert sich nicht für uns», sagt er.

Von den 94 Vorschlägen der TRC wurden laut dem kanadischen Medienhaus CBC erst 13 komplett umgesetzt, 19 Vorschläge wurden noch nicht einmal angegangen. «Das Papier des Berichts wird irgendwann zu Staub zerfallen», sagt Guy Freedman. Weil ein zentraler Kontrollmechanismus und ein Zeitplan fehlen, betreibe die Regierung lediglich aufmerksamkeitsheischende Symbolpolitik, setze aber kaum substanzielle Reformen durch.

Guy Freedman versteht den Frust vieler indigener Gemeinschaften. «Indigene werden in Kanada systematisch benachteiligt, viele leben unter prekären Bedingungen», sagt er. Über 60 Gemeinschaften der First Nations haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, Nahrungsmittelunsicherheit ist in nördlichen Gemeinschaften weit verbreitet. Indigene verdienen zudem weniger, sind häufiger arbeitslos, schlecht ausgebildet und beziehen häufiger Sozialhilfe als Nicht-Indigene. Viele kämpfen mit Depressionen, greifen zu Alkohol und Drogen, driften in die Kriminalität ab. Der Anteil von Indigenen in Gefängnissen ist überproportional hoch. Meist werden sie für Delikte wie illegalen Drogen- oder Waffenbesitz oder Fahruntüchtigkeit inhaftiert. Laut Guy Freedman liegt die Wahrscheinlichkeit, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden, bei Indigenen deutlich höher als bei Nicht- Indigenen. Er spricht von systematischem Rassismus und von Diskriminierung.

 

Das Weigern der Kirche

Der Schlussbericht der TRC brachte jedoch auch positive Veränderungen mit sich. So unterzeichnete das kanadische Parlament im Juni 2021 – nach jahrzehntelangem Einsatz der indigenen Gemeinschaften − die Uno-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker. Diese anerkennt das Recht auf Selbstbestimmung und den Erhalt der indigenen Kultur und verbietet Diskriminierung und Marginalisierung. Zwei Jahre zuvor hatte die Regierung bereits den Indigenous Languages Act erlassen, der den Gebrauch von indigenen Sprachen fördern sollte.

Für Guy Freedman liegt der grösste Erfolg der TRC darin, dass nun offen über die Geschichte der Residential Schools und deren Auswirkungen diskutiert wird. Viele Kanadier*innen  hörten erstmals durch den Bericht von den Missbräuchen an indigenen Kindern in den Residential Schools – bis 2015 war dieser Teil der Geschichte nicht Teil des kanadischen Lehrplans gewesen und häufig geflissentlich übergangen worden.

Die kanadische Regierung entschuldigte sich wiederholt für das geschehene Unrecht – nicht so die katholische Kirche. Diese weigerte sich, sich zu den Missbräuchen in den Residential Schools zu bekennen. Es wurde bekannt, dass die Kirche zahlreiche Akten vernichtet hatte, um die düstere Vergangenheit zu vertuschen. Obwohl Gerüchten zufolge Tausende Kinder in diesen Schulen starben, fehlten die Beweise − bis im Mai 2021 auf dem Gelände der Kamloops Indian Residential School in British Columbia ein Massengrab mit den sterblichen Überresten von 215 indigenen Kindern gefunden wurde. «Mir brach es das Herz, doch erstaunt war ich nicht», sagt Guy Freedman.

Die TRC hatte sich aktiv für die Suche nach den Überresten von Kindern eingesetzt, die seit der Schulzeit vermisst worden waren. Nach dem erschütternden Fund in Kamloops sprach der Staat Gelder für die Untersuchung der Areale weiterer ehemaliger Internatsschulen. Im Juni 2021 wurden in Saskatchewan weitere 751 unmarkierte Gräber gefunden, bis heute wurden landesweit über 1100 Grabstätten ausfindig gemacht.

An der Shubenacadie Residential School wird noch immer nach Gräbern gesucht. Laut den Aussagen von Überlebenden wurden auch an dieser Schule Kinder begraben. Bisher verlief die Suche nach ihren Überresten jedoch erfolglos. «Die Suche hat alte Traumata wieder hervorgebracht», sagt Mike Sack. Viele Angehörige anderer Communities reisten nach Shubenacadie, um der vermissten Kinder zu gedenken und ihre Solidarität mit den Überlebenden zu bekunden. Sie platzierten Hunderte Kinderschuhe vor der Kirche des Dorfes.

 

Der Handel von Cannabis brachte, wie in vielen Reservaten, einige Gewinne ein. Seitdem es in Kanada legalisiert wurde, sind die Einnahmen aber wie Schnee an der Sonne geschmolzen. © Natalie Wenger / AICH

In der Internatsschule in Shubenacadie in Nova Scotia
erlebten indigene Kinder die Hölle.© Natalie Wenger/AICH

Unter dem Druck der Überlebenden hat der Vatikan schließlich die Schuld eines Teils seines Klerus zugegeben. © Natalie Wenger

Der lange Weg zur Versöhnung

Im ganzen Land sind solche Gedenkstätten anzutreffen. Auch im Algonquin-Park, einem Naturpark in Ontario, hatten Menschen Spielzeug, Kinderkleider und Briefe unter einen Totempfahl gelegt, um ihr Beileid zu bekunden. Doch die Kirche schwieg weiter. Aufforderungen der kanadischen Regierung, sich öffentlich zu entschuldigen, wurden vom Vatikan ignoriert. Viele Indigene, die den katholischen Glauben übernommen hatten, fühlten sich hintergangen, sie gingen auf die Strasse. Als nichts passierte, griffen einige zu drastischeren Massnahmen: Im Juli 2021 wurden 68 kanadische Kirchen beschmiert, zerstört oder in Flammen gesetzt.

Der Druck wurde zu gross. Am 1. April dieses Jahres entschuldigte sich der Papst offiziell für die Rolle der katholischen Kirche als Betreiberin der Schulen. «Ich schäme mich und bedaure die Rolle, die einige Katholiken, vor allem diejenigen mit pädagogischer Verantwortung, bei den Dingen gespielt haben, die Sie verletzt haben. Ich bedauere den Missbrauch, den Sie erlitten haben, und den Mangel an Respekt für Ihre Identität, Ihre Kultur und sogar Ihre geistigen Werte », sagte Papst Franziskus vor einer Versammlung von Delegierten der indigenen Gemeinschaften Kanadas. Die lang ersehnte Entschuldigung hat für viele Indigene eine hohe Bedeutung. Es gibt jedoch auch Stimmen, die sagen, sie komme zu spät und Worte allein würden als Wiedergutmachung nicht reichen.

Jeremy Bergen, Assistenzprofessor für Religionswissenschaften an der Universität von Waterloo, kritisiert in einem Artikel auf der Online Plattform «The Conversation» vor allem, dass der Papst zwar die Taten gewisser Mitglieder der Kirche bedauert, jedoch nicht darauf eingeht, dass die Kirche als Institution mit ihrer Entscheidung, die Schulen zu betreiben, eine assimilatorische Politik verfolgte. Der Wunsch der Überlebenden, dass Papst Franziskus für eine Entschuldigung nach Kanada reiste, wurde ignoriert. «Um der Versöhnung willen hoffe ich, dass dies nicht die endgültige Entschuldigung des Papstes war», schreibt Bergen.

Ein Grossteil des kulturellen Erbes der Indigenen ist durch Residential Schools nachhaltig zerstört worden. Viele autochthone Sprachen und Bräuche sind ausgestorben, weil sich niemand mehr an sie erinnert. Daran kann auch keine Entschuldigung etwas ändern. Und erst recht nicht drei Tafeln auf einem Hügel, die das Problem so behandeln, als würde es die Gegenwart nicht betreffen. Guy Freedman sagt: «Ein generationenübergreifendes Trauma lässt sich nicht von heute auf morgen beheben.» Für eine Heilung braucht es mehr.

 

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