AMNESTY Magazin Nr. 111, August 2022

Indigene Völker

Zur Sterilisation Gezwungen

Ende der 1990er-Jahre wurden in Peru an Hunderttausenden Zwangssterilisationen durchgeführt – vor allem an indigenen und armen Frauen. Fünfundzwanzig Jahre später kämpfen die Opfer noch immer um Gerechtigkeit.

Von Olalla Piñeiro Trigo

«Nach der Geburt meines vierten Kindes fragte man mich nach meiner Verhütungsmethode. Als ich sagte, dass ich keine anwende, wurde mir gesagt, dass wir uns nicht weiter ‹wie die Karnickel› fortpflanzen könnten. Man bestand darauf, dass ich einer Operation zustimmte, ohne mir die Folgen zu erklären. Als ich mich wehrte, weigerten sie sich, mir mein Baby zu geben. Ich hatte Angst, dass sie es mir wegnehmen würden, also willigte ich schliesslich ein.» Es war 1996, als María Elena Carbajal im Alter von 26 Jahren in einem Krankenhaus in einem Vorort von Lima gegen ihren Willen sterilisiert wurde.

Schätzungsweise 300 000 Frauen und 25 000 Männer wurden im «Programm für reproduktive Gesundheit und Familienplanung» zwischen 1996 und 2001 zwangssterilisiert. Der damalige Präsident Perus, Alberto Fujimori, hatte das Programm eingeführt, mindestens 18 Frauen starben dabei. Die meisten Opfer haben eines gemeinsam: Sie stammen aus indigenen Gemeinschaften aus einem ländlichen und armen Umfeld. «Dieser ‹Gesundheitsplan› wurde als Instrument zur Senkung der Geburtenrate angepriesen, aber in Wirklichkeit war es eine rassistische Politik, die darauf abzielte, die indigenen Völker und die Armen auszurotten», sagt María Esther Mogollón, Sprecherin der Vereinigung der von Zwangssterilisationen betroffenen peruanischen Frauen AMPAEF.

 

«Dieser ‘Gesundheitsplan’ wurde als Instrument zur Senkung der Geburtenrate angepriesen, aber in Wirklichkeit war es eine rassistische Politik.»
María Esther Mogollón

Im März 2021 wurde der erste Prozess gegen die Verantwortlichen eröffnet. Nach mehr als 25 Jahren Kampf werden nun endlich 1300 Klägerinnen angehört. Angeklagt sind Alberto Fujimori sowie drei seiner ehemaligen Gesundheitsminister und zwei Beamte. Fujimori weist jede Verantwortung von sich und versichert, dass sein Programm auf Freiwilligkeit beruht habe. Einzelne erzwungene Sterilisationen seien das Werk einiger böswilliger Ärzte gewesen. «Was man uns angetan hat, war brutal, viele Frauen leiden noch immer unter den Folgen», sagt María Elena Carbajal, die heute die Vereinigung der Opfer von Zwangssterilisationen in Lima und Callao leitet. «Wie können 1300 Klägerinnen auf Einzelfälle reduziert werden? Das alles war geplant und das muss anerkannt werden.»

Kampf um Anerkennung ihres Leids: Die Opfer der Zwangssterilisation setzen sich seit Jahren dafür ein, dass der Staat zugibt, ihre Rechte auf körperliche Unversehrtheit und ihre sexuellen Rechte verletzt zu haben. © AMPAEF

 

Josefina Quispe spricht über die Zwangssterilisation, die sie als 33-Jährige erleiden musste © BBC (ENGLISH / ESPAÑOL)

Brutale Methoden

Glaubt man den Opferverbänden, waren Lügen, Erpressung und Drohungen gängige Methoden. «Man liess die Frauen glauben, dass es sich um eine reversible Operation handle oder dass es um eine medizinische Kontrolle gehe. Tatsächlich wurden ihnen aber die Eileiter unterbunden», sagt María Esther Mogollón. «Sie drohten den Frauen auch damit, Familienmitglieder zu verhaften oder ihnen die Kinder wegzunehmen, wenn sie sich widersetzten. Und dann gab es noch die brutalste Methode: Mit Lastwagen fuhr man in entlegene Andendörfer und operierte Indigene unter primitiven Bedingungen. Die Opfer wurden gefesselt, und manchmal ging auch die Anästhesie vergessen.»

María Esther Mogollón begleitet seit 25 Jahren Opfer und kennt die verheerenden Auswirkungen dieses Programms: Bei den Frauen wurden Depressionen diagnostiziert, viele haben körperliche Schäden davongetragen. Auch die sozialen Auswirkungen sind weitreichend: In den Anden wird die Mutterschaft wertgeschätzt; Frauen, die ihrer Fruchtbarkeit beraubt wurden, haben in der Gesellschaft oft keinen Platz mehr. Wie viele andere Opfer wurde auch María Elena vom Vater ihrer Kinder verlassen. «Als ich ihm erzählte, was die Ärzte mit mir gemacht hatten, warf er mir vor, ich hätte mich absichtlich sterilisieren lassen, um mit anderen Männern schlafen zu können.» Heute, mit 52, leide sie an einem Genitalprolaps und habe den Gesundheitszustand einer wesentlich älteren Frau.

Während sie vor dem Justizpalast in Lima demonstrierten, wurden María Elena Carbajal und Gloria Basilio von Aktivist*innen der rechtsextremen Gruppe «La Resistencia» angegriffen. © AMPAEF

«Nach der Geburt meines vierten Kindes fragte man mich nach meiner Verhütungsmethode. Als ich sagte, dass ich keine anwende, wurde mir gesagt, dass wir uns nicht weiter ‘wie die Karnickel’ fortpflanzen könnten.»
María Elena Carbajal

Kampf gegen die Straflosigkeit

Seit 1999 wird Zwangssterilisation vom Internationalen Strafgerichtshof als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» anerkannt. Trotz jahrelanger Mobilisierung warten Tausende Peruaner*innen immer noch auf Gerechtigkeit. Insgesamt gingen bei der Staatsanwaltschaft mehr als 2074 Beschwerden ein. Der derzeitige Präsident Perus, Pedro Castillo, versprach während des Wahlkampfs im Juni 2021, die Entschädigung der Opfer zu einer Priorität zu machen. Im Dezember 2021, nach neunmonatigen Anhörungen, war es die Staatsanwaltschaft, die eine strafrechtliche Untersuchung wegen «Verletzung des Lebens und der Gesundheit» sowie «schwerer Menschenrechtsverletzungen» einleitete.

Auch wenn die Suche nach Gerechtigkeit voranschreitet, ist der Kampf noch lange nicht gewonnen. Vor allem ist der Hauptangeklagte, Ex-Präsident Alberto Fujimori, abwesend, der wegen weiterer Menschenrechtsverbrechen zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde. Er muss derzeit nicht vor Gericht, da der Vorwurf der Zwangssterilisation im Auslieferungsabkommen nicht vorgesehen war, das Chile mit Peru geschlossen hatte, als er ausgeliefert wurde. Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters plädiert seine Verteidigung für eine Begnadigung. «Er darf nicht entlastet werden! Warum sollte er Privilegien haben? Es gibt auch andere alte Menschen im Gefängnis», empört sich María Elena Carbajal.

Hinzu kommen weitere Hindernisse: Klägerinnen, die in abgelegenen Dörfern leben, haben Schwierigkeiten, einem Prozess zu folgen, der wegen der Pandemie virtuell abgehalten wird. Auch können sie sich kaum die notwendigen medizinischen Untersuchungen leisten, die zudem retraumatisierend sind. Nach der unerwarteten Abberufung der zuständigen Staatsanwältin Anfang Juli verlangt die Vereinigung AMPAEF eine Erklärung, denn die Abberufung sei ein Schritt zurück auf null. Trotz der Hindernisse sind die Opfer entschlossen, den Fall bis zum Ende durchzuziehen. María Elena Carbajal sagt: «Wir müssen für das, was wir erlebt haben, entschädigt werden. Es geht nicht um Geld, sondern um die Wahrheit. Wir verdienen eine öffentliche Entschuldigung.»

 

Rassistisch motivierte Eingriffe

Die Zwangssterilisation wurde in der Vergangenheit immer wieder als Instrument zur soziodemografischen Kontrolle eingesetzt. So griffen Japan, Nazi-Deutschland, Schweden und auch die Schweiz darauf zurück, um die Zahl der Menschen mit Behinderungen, psychischen Krankheiten oder «sozialer Unangepasstheit» zu begrenzen. In Südafrika wurden HIV-infizierte Frauen zwangssterilisiert, um die Ausbreitung von Aids einzudämmen.

Auf dem amerikanischen Kontinent wurden in mehr als sechs Ländern – Mexiko, Guatemala, Brasilien, Puerto Rico, den USA und Kanada – Zwangssterilisationen an Indigenen durchgeführt. Die Staatsanwaltschaft von Panama hat im Februar dieses Jahres eine Untersuchung zu mutmasslichen Fällen von Zwangssterilisationen in der Provinz Bocas del Toro eingeleitet, während ein im Sommer 2021 veröffentlichter Bericht des Ständigen Senatsausschusses für Personenrechte in Kanada Fälle von Zwangssterilisationen bis mindestens 2010 aufdeckte. Ganz zu schweigen von China, das beschuldigt wird, Zwangssterilisationen bei der uigurischen Minderheit in Xinjiang durchzuführen.

 

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