AMNESTY Magazin Nr. 112, Dezember 2022

Right to love

Nur die liebe zählt

Die Zuneigung zwischen Tehmeena Rizvi und Yash Verma stand unter einem schlechten Stern: Sie ist eine Muslimin aus  Kaschmir, er ein Hindu aus Delhi. Die beiden heirateten – trotz aller Schwierigkeiten.

Protokoll von Oliver Schulz
Alle Fotos von Florian Lang

Tehmeena Rizvi: Yash und ich haben uns 2018 zum ersten Mal getroffen. Ich war im selben Jahr von Budgam in Kaschmir nach Delhi gezogen, um meine Prüfung für den öffentlichen Dienst abzulegen.

Yash Verma: Zur gleichen Zeit kam ich aus den USA zurück nach Indien. Ich hatte in Kalifornien Informatik studiert. Nach meinem Abschluss wollte ich in Indien die Prüfung für Staatsangestellte machen und danach als Beamter oder Diplomat arbeiten.

Tehmeena: Wir landeten im selben Kurs. Am Anfang waren wir nicht befreundet, wir sprachen kaum miteinander. Ich war damals sehr schüchtern. Für mich war es ein kleiner Kulturschock, als ich von Kaschmir nach Delhi zog, daher verhielt ich mich zunächst sehr zurückhaltend. Yash und ich hatten völlig unterschiedliche Freundeskreise. Als unsere Freunde dem Unterricht einmal fernblieben, begannen wir miteinander zu reden. Ich bemerkte, dass er mich anders ansah als die anderen. Wir stellten fest, dass wir in vielerlei Hinsicht den gleichen Lebenslauf hatten. Es fing mit dem Alter an, wir sind beide 27. Wir waren zur gleichen Zeit zur Schule gegangen, wir hatten ähnliche Reiseerfahrungen gemacht. Und wir hatten die gleichen Überzeugungen, wenn es um Spiritualität ging: Wir glaubten beide an etwas Grösseres und dass es wichtig ist, anderen Menschen zu helfen, statt nur an sich zu denken. In vielerlei Hinsicht sind wir aber völlig verschieden: So haben wir unterschiedliche Vorlieben, wenn es um die Wahl der Kleidung, der Farben, der Fernsehsendungen und vor allem der Musik geht. Yash mag amerikanischen Pop und Rap, ich dagegen Urdu-Klassiker und Bollywood.


Interreligiöse Paare, wie Tahmeena und Yash eines sind, sind in Indien nach wie vor selten. © Florian Lang

Tehmeena: «Ich komme aus einer sehr religiösen schiitischen Familie im indischen Kaschmir. Meine Mutter und meine Schwestern bedecken bis heute ihren Kopf, ich habe das auch lange getan.». © Florian Lang

Yash stammt aus einer hinudistischen Familie: «Wir sind religiös, vor allem auf eine spirituelle Art. Wir alle meditieren. »  © Florian Lang

Yash: Tehmeenas Selbstvertrauen war das Erste, was mir auffiel, als ich sie in einem unserer Kurse sah. Ihre Schönheit zog mich an, dies aber erst nach einigen Begegnungen. Ich war anfänglich vor allem davon fasziniert, wie klug und weise sie war.

Tehmeena: Am Anfang dachten wir nicht, dass aus unserer Freundschaft eine Beziehung werden würde. Aber dann begann eine Liebe zu wachsen. Und meine Zweifel wuchsen auch! Wie sollte ich mit der Situation umgehen?
Es gibt sehr wenige Fälle solcher Beziehungen oder gar Eheschliessungen, die meisten bleiben im Verborgenen. Nur etwa drei oder vier Prozent der Frauen in Kaschmir heiraten einen Hindu.
Selbst als wir bereits ungefähr drei Jahre in einer festen Beziehung waren, hatte ich mich noch nicht getraut, es meiner Familie zu sagen. Ich hatte Angst vor ihrem Urteil.
Ich komme aus einer sehr religiösen schiitischen Familie im indischen Kaschmir. Ich hatte eine privilegierte Erziehung in einem überwiegend schiitischen Viertel genossen. Mein Vater war zweimal zur Hadsch in Mekka. Meine Familie betet fünfmal am Tag. Meine Mutter und meine Schwestern bedecken bis heute ihren Kopf, ich habe das auch lange getan.
Ausserdem muss wohl erklärt werden, dass es in den muslimischen indischen Familien ebenfalls Kasten gibt. Wir gehören zur Kaste der Syeds, Nachkommen des letzten Propheten Mohammed, die ursprünglich aus dem Iran eingewandert sind. Wir heiraten normalerweise innerhalb der Kaste, Schiiten heiraten keine sunnitischen Muslime und umgekehrt.

Yash: Tehmeenas Vater ist ein einflussreicher Mann. Weil
die Familie geschäftlich sehr erfolgreich ist, ist sie gesellschaftlich exponiert. In Indien gibt es Anführer – Menschen, denen andere in der jeweiligen Gemeinschaft folgen. Wenn seine Tochter ihm nicht gehorcht, ist das ein Problem für den Vater, er verliert seine Autorität.

Tehmeena: Die meisten Mädchen bleiben für immer in Kaschmir. Nur wenige verlassen die Region. Auch in meiner Familie war es nicht anders. Ich bin die jüngste Tochter, keine meiner Schwestern hat das Elternhaus vor der Ehe verlassen.
Ich hatte aber härter als sie in der Schule gelernt, war fleissiger. Deshalb schickten mich meine Eltern zum Studieren nach Delhi. Ich war das einzige Mädchen aus der Familie, das Kaschmir verliess. Ich zog in die Hauptstadt, wo ich zum ersten Mal allein lebte.
Freunde der Familie hörten von meiner Beziehung zu Yash und informierten meine Eltern. Meine Mutter rief an und sagte, ich würde Schande über die Familie bringen. Ich habe versucht, meine Familie zu überzeugen – sechs  Monate lang.
Ich habe geredet und gestritten, bin aber nur auf Widerstand gestossen. Dann habe ich einen Maulana konsultiert, einen islamischen Gelehrten. Dieser sagte, es sei mir nach islamischem Recht erlaubt, Yash zu heiraten – wenn wir nach den islamischen Normen der Nikah Zeremonie heirateten. Und weil ein Maulana nach islamischemRecht Konflikte in der Gemeinschaft schlichten soll, fragte er mich nach der Telefonnummer meines Vaters. Er sprach mit ihm, aber mein Vater beharrte auf seinem Nein.
An diesem Punkt war für mich eine Grenze erreicht. Mir wurde klar, dass ich meine Eltern nie würde überzeugen können – egal, was ich sagen würde, sie würden nicht zustimmen.
Die gesamte Situation wirkte sich zunehmend negativ auf meine geistige Gesundheit aus. Alle halbe Stunde rief jemand aus meiner Familie an, um mich aus meiner Beziehung «herauszuholen». Ich gab es auf, sie überzeugen zu wollen.

Yash: Bei mir war es ganz anders. Es gab so gut wie keine Probleme. Ich komme aus einer liberalen Familie, bin in Delhi aufgewachsen und war schon in der Grundschule mit Kindern aus allen Religionen und Kasten in Kontakt.
Meine Mutter ist Ärztin, mein Vater Arzt, beide arbeiten. Bildung war in unserer Familie immer ein grosses Thema, mein Grossvater war Erziehungswissenschaftler. Wir sind religiös, vor allem auf eine spirituelle Art. Wir alle meditieren. Für uns sind die unterschiedlichen Konzepte, die es von Gott gibt, von grosser Bedeutung. Wir gehören zur Kaste der Kayastha, traditionell waren wir also Schriftgelehrte und Beamte. Aber in meiner Familie schaut man nicht auf Kaste oder Religion. Für uns sind alle Menschen gleich.
In meiner persönlichen Umgebung gab es deshalb in Bezug auf die Liebe zwischen Tehmeena und mir kaum Schwierigkeiten.
Einige aus dem familiären Umfeld mussten sich erst daran gewöhnen, mehr war da aber nicht. Meine Eltern haben Tehmeena von Anfang an so geliebt, wie sie ist.

Tehmeena: Wir haben uns entschieden, während des
Lockdowns zu heiraten. Das war der richtige Zeitpunkt, weil da sowieso alles im Privaten blieb. Aber auch, weil ich psychisch angegriffen war. So gab es nur eine kleine Hochzeit in Yashs Haus. Und dann, ungefähr ein halbes Jahr später, folgte eine richtig grosse indische Hochzeit.

Yash: Die Hochzeit dauerte sechs, sieben Tage. Jeden Tag gab es viele kleine Veranstaltungen, es wurde getanzt und gesungen. Wir wurden für verschiedene Anlässe immer wieder unterschiedlich eingekleidet. Es gab viel gutes indisches Essen.
In kaum einem Land werden Hochzeiten so gefeiert wie in Indien! Alle meine Freunde und Verwandten waren dabei, 200 bis 300 Gäste kamen. Und das ist noch wenig für Indien. Vielleicht hatten einige Gäste ein paar Anpassungsschwierigkeiten, weil ich als Hindu eine Muslimin heiratete, aber das war uns egal.

Tehmeena: Wer nicht dabei war, war meine Familie. Überhaupt niemand von meiner Seite. Für mich war das Fest daher ganz anders als für Yash. Man sagt ja, dass Hochzeiten für die Frauen besonders wichtig sind. Auf meiner Hochzeit fehlte jedoch vieles, was eigentlich für die Braut dazugehört. Obwohl Yashs Eltern wirklich alles getan haben, damit es schön für mich war. Sie behandelten uns, als würden sie zwei ihrer Kinder verheiraten. Aber das Vakuum blieb, das durch die Abwesenheit meiner Eltern entstand. Niemand konnte diese Leere füllen.

Yash: Das Leben geht weiter. Wir beide haben unsere Arbeit. Tehmeena arbeitet als Public-Policy-Expertin, unter anderem im Bereich Frauen- und Kinderrechte und Entwicklung. Ich bin Geschäftsmann und Inhaber einer Marke, die natürliches Mineralwasser aus dem Himalaja und andere Produkte verkauft.

Tehmeena: Wir stellen uns die Zukunft ähnlich vor, wie unser Leben jetzt bereits ist: Wir feiern weiterhin die Feste zusammen, sowohl das hinduistische Diwali als auch das muslimische Eid. Wir haben auch keine Probleme mit den Essensregeln, denn wir sind beide Nicht-Vegetarier und mögen ähnliche Gerichte. Wir lieben es, zusammen zu essen!
Daran, eine Familie zu gründen, denken wir noch nicht, aber wenn wir es tun, werden unsere Kinder frei sein, den Weg einzuschlagen, den sie einschlagen wollen. Das Einzige, was wir ihnen beibringen möchten, ist, an Gott zu glauben. Ich habe keine Angst, dass meine Kinder marginalisiert werden könnten.

Yash: Im Alltag fallen wir ja auch kaum auf. Wir kleiden uns beide eher westlich. Man merkt nicht, dass wir ein interreligiöses Paar sind. Wir geraten auch nicht in entsprechende Situationen, schon gar nicht in solche, in denen wir vielleicht sogar in Gefahr wären. Zumindest hier in Süd-Delhi, wo wir leben, ist das soziale Klima offener.

Tehmeena: Ich hatte schon aufgehört, meinen Kopf zu bedecken, als ich nach Delhi kam. Auch weil es hier im Vergleich zu Kaschmir so schwül ist. Vielleicht reden manchmal einige Leute hinter unserem Rücken, wenn wir ausserhalb der Stadt sind, aber dann hören wir es ja nicht.
Meine Religion habe ich nicht aufgegeben, ich praktiziere meine Rituale, so wie mein Mann seine praktiziert. Zu meiner Familie habe ich allerdings weiterhin keinen Kontakt. Am Ende hat jedes Telefongespräch mit ihnen die Situation nur noch schlimmer gemacht. Deshalb herrscht jetzt Schweigen.

Schwierige Beziehungen

Wenn es um Beziehungen und Ehen geht, ist Indien ein besonders restriktives Land. Grund ist vor allem das Kastensystem, festgeschrieben in den Jahrtausende alten vedischen Texten, das bis heute besteht – obwohl laut der Verfassung von 1947 jede Benachteiligung aufgrund der Kastenzugehörigkeit verboten ist. Dieses religiös fundierte Gesellschaftssystem betrifft aber nicht nur die Hindus. Es hat auf andere Gemeinschaften ausgestrahlt, deshalb gibt es in Indien auch unter Muslim*innen und Sikhs Kastenrestriktionen – Liebesbeziehungen sollten nur innerhalb derselben Kaste stattfinden.

Waren interreligiöse und kastenübergreifende Beziehungen bis in die 1980er-Jahre noch üblicher, so ist es besonders seit dem Erstarken des Hindu-Nationalismus in den vergangenen Jahrzehnten zu massiven Anfeindungen und Übergriffen gegen Paare gekommen, deren Beziehungen die Kastengrenzen, besonders aber die Grenzen der Religionen überschritten. Mit einer breit angelegten Kampagne gegen einen angeblichen «Love Jihad», bei dem hinduistische Frauen in muslimische Beziehungen gelockt und gezwungen würden, haben die Hindu-Nationalist*innen das Klima der Angst weiter geschürt.

Dennoch gibt es auch heute noch viele interreligiöse Beziehungen in Indien. Für privilegierte Menschen sind sie weniger problematisch – schwierig ist es aber für Menschen aus einfacheren Verhältnissen, besonders wenn sie auf dem Land leben.

Das India Love Project porträtiert seit Jahren interreligiöse und kastenübergreifende, aber auch homosexuelle Paare, um zu zeigen, dass es auch ein anderes Indien gibt. Vor allem privilegierte, teils auch prominente Menschen beschreiben dort ihre Beziehung.
Die Organisation Dhanak of Humanity in New Delhi hat sich 2004 die Unterstützung jener auf die Fahnen geschrieben, die wegen ihrer interreligiösen Beziehungen Anfeindungen oder gar Angriffen ausgesetzt sind, und bietet ihnen Hilfe an. Die Non-Profit- Organisation setzt sich auch gegen Ehrenmorde und erzwungene Hochzeiten ein.

India Love Project: www.instagram.com/indialoveproject

Dhanak: www.dhanak.org.in

Tehmeena: «Daran, eine Familie zu gründen, denken wir noch nicht, aber wenn wir es tun, werden unsere Kinder frei sein, den Weg einzuschlagen, den sie einschlagen wollen.» © Florian Lang

Eine umkämpfte region

Der Status der Region Kaschmir im Himalaja ist seit Jahrzehnten umstritten. Nach dem Krieg zwischen Indien und Pakistan wurde die Region geteilt, in Indien entstand der Bundesstaat Jammu und Kaschmir, im Norden kamen Asad Kaschmir und Gilgit-Baltistan unter pakistanische Verwaltung. Die Mehrheit der Bevölkerung bilden sunnitische Muslim*innen, die muslimische Konfessionsgruppe der Schiit*innen hat einen weitaus geringeren Anteil an der Bevölkerung.

Sowohl die indische als auch die pakistanische Regierung nehmen für sich in Anspruch, die kaschmirischen Interessen zu vertreten, was immer wieder zu Konflikten zwischen den beiden Nationen führt. 2019 wurde der Autonomiestatus von Jammu und Kaschmir aufgehoben und das Gebiet in zwei Unionsterritorien (Jammu und Kaschmir sowie Ladakh) aufgespalten. Die Lage in Kaschmir ist bis heute sehr angespannt, der indische Teil wird seit Jahren militärisch und sonderpolizeilich regiert.

© Furfur (CC)

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