AMNESTY Magazin Nr. 118, Juni 2024
USA
Die zentrale Frage
In den vergangenen zwei Jahren haben 21 Bundesstaaten in den USA den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen stark eingeschränkt. Als Reaktion darauf ist eine neue Bewegung von Aktivist*innen entstanden, welche die Präsidentschaftswahlen im November merklich beeinflussen könnte.
Text und Photos von Théophile Simon
Am 1. Mai herrschte im Senat von Arizona grosse Aufregung. Die Abgeordneten im Plenarsaal berieten sich mit ernster Miene, im Bereich für die Öffentlichkeit blieb kein einziger Sitzplatz unbesetzt. Der Text, über den an diesem Morgen abgestimmt wurde, war von grösster Bedeutung: Die demokratischen Abgeordneten forderten die Abschaffung eines alten Gesetzes, das Schwangerschaftsabbrüche in Arizona vollständig verbot.
Das Gesetz stammte von 1864 und gehörte schon lange auf den Müllhaufen der Geschichte. Im Jahr 1973 wurde das Recht auf Schwangerschaftsabbruch auf US-Bundesebene durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA verankert. Der Entscheid ist unter dem Begriff Roe vs. Wade bekannt, nach dem Namen der damaligen Klägerin Jane Roe und ihres Gegners vor Gericht, des Bezirksstaatsanwalts Henry Wade. Ein halbes Jahrhundert später hatte die Mehrheit im Obersten Gerichtshof unter Präsident Trump ihre Meinung geändert, und die konservativen Richter*innen hoben im Juni 2022 Roe vs. Wade auf. Seither ist es den US-Bundesstaaten überlassen, ihre Abtreibungspolitik selbst zu definieren. Seitdem haben 14 Staaten den Schwangerschaftsabbruch verboten, sieben weitere haben den Zugang teilweise eingeschränkt.
Am 9. April hatten in Arizona die Republikaner*innen das Gesetz von 1864 wieder ausgegraben und dessen Wiedereinführung gefordert. Der oberste Gerichtshof des Bundesstaates urteilte daraufhin, dass in dem US-Staat das Abtreibungsgesetz von 1864 durchgesetzt werden könne – was in der Bevölkerung heftigste Reaktionen auslöste. Denn die Regelung von 1864 sah ein grundsätzliches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen vor, auch in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest. Ausnahmen hätten nur gegolten, wenn das Leben der betroffenen Frau gefährdet gewesen wäre. «Als die Nachricht kam, brachen viele junge Leute weinend zusammen», erinnert sich Patti O’Neil, die Chefin der Demokratischen Partei in Arizona.
Doch die Abgeordneten des Bundesstaats verhinderten die Wiedereinführung: «Mit 16 zu 14 Stimmen wird das Gesetz von 1864 aufgehoben», verkündete der Speaker nach der Abstimmung im Senat am 1. Mai. Dabei gab es eine Überraschung: Zwei republikanische Abgeordnete stimmten mit den Demokrat*innen. Sehr zum Zorn der anwesenden Abtreibungsgegner*innen, die diese Abweichler beschimpften. «Ihr werdet nicht in den Himmel kommen», schrie einer von ihnen.
«Die beiden Republikaner hatten Angst. Die Republikaner*innen wissen, dass dieses Thema sie bei den Wahlen im November Stimmen kosten könnte», analysiert Patti O’Neil den Wahlausgang. Denn Arizona könnte eine tragende Rolle im Rennen um das Weisse Haus spielen: Es ist einer der sieben Staaten, die mal demokratisch, mal republikanisch wählen. Im Jahr 2016 hatte Arizona für Donald Trump gestimmt. 2020 triumphierte dort Joe Biden.
Die Aktivist*innen, die sich für sichere Schwangerschaftsabbrüche einsetzen, waren ebenfalls vor dem Senat versammelt, und sie versicherten, dass sie alles tun würden, «um die Frage des Schwangerschaftsabbruchs zur zentralen Frage der Wahl zu machen.» So sagten beispielsweise die 17-jährige Amirah Coronado und Lexie Rodriguez: «Alle unsere Freund*innen, auch die weniger politisierten, waren sich diesmal bewusst, dass es bei der Wahl buchstäblich um ihr Leben gehen würde.»
Alexandria Cardenas aus Huston konnte sich in Texas nicht beraten lassen, als sie ungewollt schwanger wurde.
Abtreibungsgegner*innen beobachten die Abstimmung im Senat von Arizona am 1. Mai 2024, an der über die Aufhebung des Gesetzes von 1864 debattiert wird.
Teenagermütter in einer High School in Brownsville, einer Stadt an der Grenze zu Mexiko, am 30. April 2024.
Keine Unterstützung
Tausend Kilometer weiter östlich zeigt Texas, welche Gefahren das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen birgt. In diesem Bundesstaat sind Schwangerschaftsabbrüche seit August 2022 verboten, auch bei Vergewaltigung oder Inzest. Tausende Texanerinnen müssen nun in einen anderen Bundesstaat reisen, um einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Ein im November 2023 verabschiedetes Gesetz verschärft die Lage zusätzlich, denn es sieht vor, dass auch jede Person, die Schwangerschaftsabbrüche «unterstützt oder dazu anstiftet», strafrechtlich verfolgt werden kann.
«Ich musste wie eine Kriminelle aus Texas fliehen, um in einer Klinik in Kalifornien eine Abtreibungspille zu nehmen. Es war ein Albtraum», berichtet die 24jährige Alexandria Cardenas aus dem texanischen Houston. Nachdem sie im Januar 2023 von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, besuchte die Sozialarbeiterin einen Ableger von Planned Parenthood, einer NGO, die sich auf Familienplanung und reproduktive Gesundheit spezialisiert, um sich über einen Schwangerschaftsabbruch zu informieren.
Sie wurde mit peinlichem Schweigen empfangen. «Die Ärzt*innen dürfen die Patient*innen nicht einmal mehr beraten. Ich musste von Anfang bis Ende allein zurechtkommen», sagt sie. «Als ich nach Texas zurückkehrte, drückte die Kriminalisierung von Abtreibungen auf meine Stimmung. Ich bekam Depressionen und hätte mich fast umgebracht.» Die junge Frau ist nicht die Einzige, die beinahe ein Drama erlebt hätte. Nach den texanischen Gesetzen dürfen nur Schwangerschaften abgebrochen werden, bei denen der schwangeren Person eine tödliche Gefahr droht. In der Praxis wird diese Ausnahme jedoch nur selten angewandt.
Die 36-jährige Lauren Miller hat diese bittere Erfahrung gemacht. Im Sommer 2022, nach nur wenigen Wochen Schwangerschaft, erfuhr die in Dallas lebende Geschäftsführerin, dass bei einem ihrer beiden Zwillingsföten Trisomie 18 diagnostiziert worden war. Obwohl nur geringe Überlebenschancen für den Fötus bestanden und die Gesundheit des lebensfähigen Fötus sowie die der Mutter bedroht waren, weigerten sich die texanischen Ärzt*innen einzugreifen. «Ich musste nach Colorado fahren, um den nicht lebensfähigen Fötus abzutreiben, was mich mehrere Tausend Dollar gekostet hat», berichtet Lauren traurig, die inzwischen Klage gegen den Staat Texas eingereicht hat. «Ich konnte es mir leisten, aber ich will mir gar nicht vor stellen, in welcher Situation sich Eltern befinden, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken.»
Verschärfte Diskriminierung
Zahlreiche NGOs sind jeden Tag mit den Auswirkungen des Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen auf die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen konfrontiert. «Etwa 85 Prozent der Menschen, die um Hilfe bitten, gehören ethnischen Minderheiten an, obwohl diese nur die Hälfte der Bevölkerung von Texas ausmachen. Die Realität ist, dass diese Anti-Abtreibungsgesetze rassistisch und klassenorientiert sind», sagt Anna Rupani, die Direktorin von Fund Texas Choice (FTC), einer Organisation, die finanzielle Unterstützung für Texaner*innen anbietet, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen wollen.
Lauren Miller und ihr Sohn Henry in Dallas, Texas, am 28. April 2024. Lauren musste nach Colorado fahren, um Henry und sich zu schützen.
Die Verbote haben auch Auswirkungen auf Minderjährige: Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren steigt die Zahl der Teenager-Schwangerschaften in Texas wieder an. «Immer mehr meiner Schülerinnen werden bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren schwanger. Sie sind dann völlig auf sich allein gestellt und haben keine Wahl, als das Kind auszutragen», sagt Cynthia Cardenas, die Direktorin einer Highschool in Brownsville, einer Stadt an der Grenze zu Mexiko, in der 99 Prozent der Bevölkerung lateinamerikanischer Abstammung sind und die Armutsrate doppelt so hoch ist wie im nationalen Durchschnitt. «Die USA machen einen gigantischen Rückschritt», sagt Anna Rupani. «Das ist eine Lektion für den Rest der Welt: Man darf nicht davon ausgehen, dass das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch gesichert ist.»
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