AMNESTY Magazin Nr. 121, März 2025

Herrschaft über Frauenkörper

Ignorierte Hilferufe

Femizide sind in Venezuela keine Einzelfälle, sondern Ausdruck eines Systems, das Frauen im Stich lässt. Alle 34 Stunden stirbt in dem Land eine Frau durch geschlechtsspezifische Gewalt. Die Geschichten von Carla Ríos und Klaribel zeigen, wie gefährlich das Leben für Frauen in einem Land geprägt von Machismus, Korruption und staatlicher Gleichgültigkeit ist.

Text und Fotos von Linda Käsbohrer

Vefolgt, vergewaltigt, ermordet

Mehrfach zeigte Carla Ríos ihren gewalttätigen Expartner bei den Behörden an. Doch diese ignorierten die Hilferufe der zweifachen Mutter und Unternehmerin. Die Gewalt spitzte sich immer weiter zu: Ihr Expartner verfolgte und bedrohte Carla weiterhin. Einmal entführte er sie und vergewaltigte sie in einem Hotel. Auch danach blieben mehrere Schutzanordnungen der Behörden wirkungslos. 

Am 31. Juli 2020 wurde Carla in ihrem eigenen Haus ermordet – ein Schuss in die Brust, ein weiterer in den Kopf. Carla verlor ihr Leben, weil ihr Expartner nicht akzeptieren konnte, dass sie ein unabhängiges Leben ohne ihn führen wollte. Für ihn war Carla sein Besitz.

Für Carlas Familie war der Femizid ein Schock. «Anfangs hatte er Carla immer gut behandelt. Er nannte mich sogar ‹Mum›», erzählt Carlas Mutter Carmen Rodríguez. Doch mit dem beruflichen Erfolg und der wachsenden Unabhängigkeit ihrer Tochter habe sich alles geändert. Der Ex wurde zunehmend eifersüchtig und kontrollierte Carla. Er reagierte mit Gewalt, wenn sie nicht schnell genug auf seine Nachrichten reagierte. Die Mutter findet kaum Worte für das, was ihrer Tochter widerfahren ist.

«Die Behörden wussten, dass er gefährlich ist. Trotzdem durfte er frei herumlaufen – bis er CArla tötete. Während die Täter ungestraft davonkommen, geraten die Opfer in Vergessenheit.»

Carmen Rodriguez

Carlas gewaltsamer Tod hat ihrer Schwester deutlich gemacht, wie wenig Schutz Frauen in Venezuela erhalten: «In diesem Land bedeutet eine Anzeige nichts. Frauen wie meine Schwester verlieren ihr Leben, während das System untätig bleibt.»

2023 zählte das Centro de Justicia y Paz 253 Femizide und 134 versuchte Tötungen. Die Dunkelziffer liegt vermutlich um einiges höher, da viele Fälle aus Angst oder wegen des Vertrauensmangels in das Justizsystem nicht gemeldet werden.

mit der Angst leben

Auch Klaribel fühlt sich von den Behörden in Venezuela im Stich gelassen. 2020 trennte sie sich von ihrem damaligen Partner, der sie schlug und krankhaft eifersüchtig ist. Er begann, sie zu stalken und bedroht sie jedes Mal mit dem Tod, wenn er ihr begegnet. «Um meiner Kinder willen habe ich viel zu lange geschwiegen», sagt Klaribel. Sie verlässt das Haus nur noch in Begleitung, selbst in den eigenen vier Wänden fühlt sie sich nicht sicher.

Die traumatischen Erlebnisse haben sowohl bei ihr als auch bei ihren Kindern tiefe Spuren hinterlassen. Drei erlassene Schutzanordnungen sind bis heute wirkungslos, die Behörden liessen ihn immer wieder gehen.

«Er nahm eine Gasflasche, öffnete sie und drohte, uns alle zu töten.»

Klaribel

Engagement für die Opfer

Lissette González arbeitet für die NGO Provea, die sich für soziale Rechte und Menschenrechte einsetzt. «Femizide sind oft das tragische Ende einer Gewaltspirale, die durch fehlenden staatlichen Schutz begünstigt wird», sagt die Sozialwissenschaftlerin. Man schicke die Opfer von einer Behörde zur nächsten. Weder Frauenhäuser noch finanzielle Hilfen stünden in ausreichendem Masse zur Verfügung. González sieht die wirtschaftliche Abhängigkeit vieler Frauen als zentrales Hindernis, um aus toxischen und gewalttätigen Beziehungen auszubrechen. «Ohne eigenes Einkommen bleiben viele Frauen gefangen», sagt sie. Die Aktivistin fordert bessere Bildung. Gleichzeitig brauche es dringend Reformen und Schutzmassnahmen.

Verharmlosung, Korruption und Gleichgültigkeit

Hinter den bunten Fassaden der venezolanischen Häuserzeilen verbirgt sich oft eine düstere Realität: Für Frauen wie Carla und Klaribel wird das Zuhause zum Ort der Angst. 2007 wurde in Venezuela zwar ein Gesetz zur Prävention von Gewalt gegen Frauen erlassen. Es gilt als richtungsweisend und sieht Schutzmassnahmen vor. Bis heute wurde dieses Gesetz jedoch nie durch spezifische Vorschriften oder Verordnungen umgesetzt. Polizei und Justiz wissen oft nicht, wie sie in entsprechenden Fällen vorgehen sollen. Die Gewalt wird verharmlost, Opfer werden systematisch abgewiesen. Hinzu kommt die Korruption: Kontakt- und Annäherungsverbote werden ignoriert, Täter in Untersuchungshaft erkaufen sich gegen Zahlung eines Geldbetrags ihre Freiheit.

In den vergangenen Jahren hat die Regierung sogenannte Mujer Cafés (Frauen-Cafés) eingerichtet. Sie werden von Frauen geführt, die im Rahmen eines staatlichen Programms dafür ausgebildet werden. Ziel ist es, den Frauen ein Erwerbseinkommen zu ermöglichen. Kritiker* innen bemängeln jedoch, die Cafés der Regierung dienten eher dazu, Wählerinnen zu gewinnen und die Programme als Erfolg darzustellen, als tatsächlich Frauen zu unterstützen.

FEMIZIDE WELTWEIT…

Femizid bezeichnet die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Diese geschlechtsspezifische Gewalt findet nicht nur in fernen Ländern statt, auch in der Schweiz wurden 2023 jeden Monat zwei Frauen durch ihren Ehemann, Lebensgefährten, Expartner, Bruder oder Sohn getötet. Es gibt aber keine explizite Statistik für Femizide in der Schweiz, was mit der Definition von Femizid zusammenhängt. Die Weltgesundheitsorganisation umschreibt Femizide als vorsätzliche Tötungen von Frauen und unterscheidet zwischen Femiziden in intimen Beziehungen und im Zusammenhang mit Mitgift sowie Femiziden ausserhalb intimer Beziehungen. Gemäss Uno wurden im Jahr 2023 weltweit 85 000 Frauen und Mädchen getötet. 51 100 von ihnen von ihrem Intimpartner oder einem Familienmitglied.

... UND BESONDERS IN LATEINAMERIKA

Lateinamerika verzeichnet besonders hohe Femizidraten: Die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) berichtete, dass 2023 mindestens 3897 Frauen in der Region Opfer von Femiziden wurden – das entspricht elf Tötungen pro Tag. Unter den 25 Ländern mit den höchsten Femizidraten waren 2016 vierzehn Länder aus Lateinamerika. Cepal schätzt, dass in Lateinamerika 88 Millionen Frauen über 15 Jahre von körperlicher oder sexueller Gewalt durch einen Täter betroffen waren oder sind, der ihr Partner war oder ist. Laut der NGO Oxfam gehören die Hauptopfer benachteiligten Gruppen an: junge, indigene und arme Frauen, die oft wenig Zugang zu Bildung und wirtschaftlichen Ressourcen haben. Diese Frauen sind nicht nur besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden, sondern werden vom Justizsystem auch weniger geschützt.

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