AMNESTY Magazin Nr. 121, März 2025

Herrschaft über Frauenkörper

Traditionen müssen sich verändern

Genitalverstümmelung ist in Sierra Leone weit verbreitet, vier von fünf Frauen leiden darunter. Dank dem unermüdlichen Engagement von Aktivist*innen wie Rugiatu Turay wird die Praxis in dem Land zunehmend hinterfragt.

Text und Fotos von Théophile Simon, Sondergesandter in Sierra Leone

Eingelullt vom Rauschen des Regenwaldes und dem Funkeln der Sterne, schläft ein Dutzend Mädchen auf einer Lichtung in der Nähe des Dorfes Magbeni in Sierra Leone. In diesem Spätsommer 2024 nehmen die Mädchen am «Bondo » teil, einem für diese westafrikanische Region typischen Ritual des Erwachsenwerdens: Seit undenklichen Zeiten werden Mädchen, die kurz vor der Pubertät stehen, von älteren Frauen in den Wald gebracht, wo sie lernen, was es als perfekte Ehefrau braucht: Kochen, Nähen, Kindererziehung und das Wissen um die «Geheimnisse» des Ehelebens.

Diese patriarchale Tradition stellt für die Frauen in Sierra Leone einen wichtigen Einstieg in ihre künftige Rolle in der Gesellschaft dar. In einem schwesterlichen Ritual werden die Mädchen mit den älteren Frauen mehrere Tage lang gemeinsam kochen und essen; sie feiern, tanzen und plaudern fernab von den Blicken der Männer. Bei ihrer Rückkehr werden die jungen Frauen in ihrem Dorf mit einem grossen Fest empfangen.

Inmitten der schlummernden kleinen Gruppe auf der Lichtung träumen an diesem Abend Hassanatu und Posseh, zwei Schwestern im Alter von 14 und 12 Jahren, von den bevorstehenden Feierlichkeiten. Bis sie ohne Vorwarnung von mehreren Händen gepackt werden. Die beiden werden geknebelt und von weiblichen Gestalten, die sich nur als Silhouetten im Mondlicht abzeichnen, am Boden fixiert. Bald zerreisst ein schrecklicher Schmerz ihre Geschlechtsteile. Dann rinnt ihnen ein Strom warmen Blutes die Beine hinunter. Hassanatu und Posseh wurden gerade beschnitten.

Hassanatu und Posseh, zwei Schwestern aus der Region Port-Loko

Die Aktivistin Rugiatu Turay in Port-Loko.

«Die Frauen im Dorf hatten uns verschwiegen, dass der Hauptzweck des Bondo darin bestand, uns zu verstümmeln. Sie haben uns mit einem Messer die Klitoris abgeschnitten. Ich habe sechs Tage lang geblutet, und mein Geschlechtsteil tut immer noch weh», erzählt Hassanatu einige Monate nach der Horrornacht. Auch Posseh ist noch immer traumatisiert. «Ich kann nicht über diese Nacht sprechen, ich habe immer noch schreckliche Albträume davon», sagt sie mit Tränen in den Augen.

Weltweite Zunahme

Jedes Jahr werden in Sierra Leone rund 40 000 junge Frauen und Mädchen Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM), die Hälfte von ihnen ist unter 15 Jahre alt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert FGM als jede teilweise oder vollständige Entfernung der äusseren weiblichen Genitalien ohne medizinischen Anlass. FGM wird oft ohne Betäubung und mit unhygienischen Instrumenten wie Rasierklingen oder Messern durchgeführt. Die Betroffenen leiden unter starken Schmerzen, immer wieder kommt es zu Todesfällen aufgrund von Folgeinfektionen. Die Gründe für die Beschneidungen sind vielfältig und reichen von traditionellen Übergangsritualen über falsche medizinische Vorstellungen bis hin zur Kontrolle der weiblichen Sexualität. Vielerorts wird geglaubt, dass nur eine beschnittene Frau «rein» ist und als Ehefrau infrage kommt. Durch die Verstümmelung soll das Lustempfinden reduziert werden – auch als Schutz vor Sex vor der Ehe. Frauen würden dadurch lernen, dass ihre Wünsche, Fantasien und Bedürfnisse verwerflich und sie aufgrund ihres Geschlechts minderwertig seien – so die Frauenorganisation Brava (ehemals Terre des Femmes). Für Menschenrechtsorganisationen weltweit ist klar: Weibliche Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung und gehört abgeschafft.

In seinem jüngsten Bericht vom März 2024 schätzt das Uno-Kinderhilfswerk Unicef, dass 83 Prozent der Frauen in Sierra Leone verstümmelt wurden. Weltweit sind rund 230 Millionen Frauen und Mädchen von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen. Die Zahl der Verstümmelungen hat seit 2016 gar noch zugenommen – weltweit um 15 Prozent. Dies ist weitgehend auf die rasante Bevölkerungszunahme der rund 30 betroffenen Länder zurückzuführen, von denen sich die meisten in Subsahara-Afrika befinden. In 6 dieser Länder fehlt jegliches Gesetz gegen diese Praxis. Dazu zählt auch Sierra Leone. Das Land gehört jedoch zu denjenigen Staaten, in denen die Zahl der Genitalverstümmelungen am schnellsten zurückgeht: Während vor dreissig Jahren noch 95 Prozent der Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren verstümmelt wurden, sind es heute «nur» noch 61 Prozent.

Dieser Fortschritt ist auch Rugiatu Turay mitzuverdanken. Die 51-jährige Aktivistin aus der Stadt Port-Loko hat ihr Leben dem Kampf gegen Genitalverstümmelung gewidmet. Sie selbst wurde im Alter von 11 Jahren beschnitten und will verhindern, dass weitere Mädchen das gleiche Leid erfahren. Im Jahr 2000 gründete sie ihre Organisation gegen Genitalverstümmelung von Guinea aus, wohin sie vor dem Bürgerkrieg in Sierra Leone geflohen war. Als Rugiatu Turay 2003 in ihre Heimat zurückkehrte, machte sie sich auf, um ganze Gemeinden davon zu überzeugen, die weibliche Genitalverstümmelung aufzugeben.

Zwei Jahrzehnte später ist die inzwischen dreifache Mutter immer noch am Werk. «Unsere Bondo-Kultur ist ein Schatz, den wir bewahren müssen, aber die Beschneidung hat darin keinen Platz. Es ist eine unmenschliche Praxis, die die Rechte der Frauen verletzt, lebenslange Behinderungen verursacht und manchmal sogar zum Tod führt. Manche Traditionen sind schädlich, und man muss sie anprangern», sagt die Aktivistin, die in ihrem alten Geländewagen, der von einer deutschen Stiftung finanziert wurde, auf dem Weg zum nächsten Einsatz ist.

Die Mentalität ändern

Am Ende eines holprigen Pfades aus roter Erde taucht das kleine Dorf Masuri auf. Etwa zwanzig Frauen haben sich auf dem zentralen Platz versammelt. Für die meisten von ihnen ist die Beschneidung junger Frauen eine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, da die Eltern sie üblicherweise mit etwas Geld oder Lebensmitteln entschädigen.

Nach einem traditionellen Tanz zu Ehren des Gastes setzen sich die Frauen des Dorfes hin, um Rugiatu Turay  zuzuhören. Diese bringt ihre Argumente gegen FGM vor: die Verbreitung von Krankheiten durch nicht sterile Instrumente, Blutungen, die jedes Jahr Dutzenden von Mädchen das Leben kosten, und Komplikationen beim Gebären. «Ich bitte Sie, Ihre Messer abzulegen, ohne unseren wunderschönen Bondo-Ritus aufzugeben. Man
kann eine Frau werden und die Tradition respektieren, ohne beschnitten zu sein», appelliert Rugiatu Turay. «Wir haben nie sexuelle Freuden erlebt und werden sie auch nie erleben, und unsere Ehemänner wenden sich oftmals von uns ab. Tun wir unseren Töchtern nicht das gleiche Schicksal an! Die Klitoris ist wie ein kleines Licht im Leben einer Frau. Wenn man sie entfernt, wird alles andere dunkel.»

Die Zuhörerinnen kichern verlegen, bevor sie heftig applaudieren. Neunzehn der zweiundzwanzig an diesem Tag versammelten Beschneiderinnen verpflichten sich, die Beschneidung aufzugeben. In der kleinen Menschenmenge diskutieren Takaray und Zaynab, zwei Schwestern in den Vierzigern. Die eine möchte die Beschneidung aufgeben, die andere lehnt die Veränderung ab. «Rugiatu hat Recht, es ist eine gefährliche Praxis, die der Vergangenheit angehört», sagt Takaray. «Unsere Mutter war eine Beschneiderin und ihre Mutter vor ihr. Es ist eine heilige Tradition. Aber mach, was du willst, jede hat ihren eigenen Glauben », erwidert Zaynab.

Beschneiderinnen im Dorf Masuri.

Takaray und Zaynab, zwei Scwestern die als Beschneiderinnen in Masuri arbeiten.

Takaray und Zaynab

Solche Worte des gegenseitigen Respekts bilden einen der wichtigsten Antriebe im Kampf gegen FGM in Westafrika, wo sich althergebrachte Traditionen mit Religion vermischen. «Die Frauen in diesen Dörfern sind guten Willens, aber ich weiss genau, dass sie wieder mit der Beschneidung fortfahren, sobald sie keine andere Möglichkeit finden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. FGM lebt von der Armut ebenso wie von archaischen Sitten», sagt Rugiatu Turay. Daher bietet ihre Organisation «reumütigen» Beschneiderinnen Mikrokredite an, um ihnen zu helfen, ein kleines Geschäft zu eröffnen oder neue Geräte für die Feldarbeit zu kaufen.

Patriarchat als Schlüsselproblem

«Abgesehen von den Beschneiderinnen sind die Männer der Schlüssel zur Lösung des Problems», sagt Rugiatu Turay auf dem Rückweg. «Sie sind es, die die Macht in den Familien und in der Gesellschaft innehaben. Sie müssen als Erstes überzeugt werden.»

So hat sie in den letzten Monaten den meisten Gemeindevorstehern ein in Mali gedrehtes Video geschickt, das in Grossaufnahme zeigt, wie ein Baby, ein 5-jähriges Mädchen und eine 13-jährige Teenagerin beschnitten werden. Die Wirkung war radikal.

Seitdem er das Video gesehen hat, hat sich der Imam von Port-Loko dem Kampf gegen die Beschneidung angeschlossen. «Bei jeder Geburt erinnere ich die Eltern daran, dass die Beschneidung im Koran nicht vorgeschrieben ist. Im Gegenteil, die Klitoris wurde von Gott geschaffen, um als Bindeglied zwischen Mann und Frau zu dienen», erklärt er im Schatten seiner kleinen Moschee, die von einer Ziegenherde belagert wird. «Wenn die Eltern darauf bestehen, ihre Tochter zu beschneiden, bin ich jedoch machtlos. Es gibt kein Gesetz, das sie daran hindert.»

Diese Situation könnte sich bald ändern. Das Parlament berät derzeit über ein Gesetz für ein Verbot von FGM, das im Laufe des Jahres 2025 verabschiedet werden könnte. Rugiatu Turay warnt jedoch: «Afrikanische Länder neigen oft dazu, Gesetze zu verabschieden, um die internationale Gemeinschaft zufriedenzustellen, ohne sie danach auch tatsächlich umzusetzen. Die Lösung liegt darin, die Mentalität der Menschen zu ändern. Das ist eine sehr langwierige Aufgabe. Wir haben noch Jahrzehnte des Kampfes vor uns.»

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