AMNESTY Magazin Nr. 114, Juni 2023

Kultur

Am Rand

Geschichten von Abgehängten, Unsichtbaren, Getriebenen erzählt der Journalist und Fotograf Klaus Petrus in seinem Buch «Am Rand». Ein Gespräch über die Entstehung der Reportagen, Porträts und Fotos von Menschen, die alle irgendwie aus der Norm fallen.

Von Manuela Reimann Graf

Das kleine, dicke Buch, das in der Jackentasche Platz haben sollte, wie der der Autor Klaus Petrus sagt, scheint keine fixe Struktur zu haben. Auf kürzere Texte folgen längere Lebenserzählungen und Reportagen, manchmal sind es auch einfach schwarz-weiss Bilder und Zitate, die aus dem Leben von 14 Person berichten. Der Autor fungiert mal als Protokollant, dann als Erzähler, dann wieder als Gesprächspartner.

So lernen wir die Rentnerin Lotti kennen, die in der Stadt Abfallkübel nach Brauchbarem durchsucht und ganz genau bestimmt, was aus ihrem Leben erzählt werden darf. Sie gibt einen Eindruck dessen, was es heisst, unter Altersarmut zu leiden, und doch die Würde zu wahren.

Vor allem anhand von Bildern tauchen wir ein in die Welt des aus Afghanistan geflüchteten Journalisten, der am Ende in der Schweiz gestrandet ist und nicht weiss, was er hier soll. Auch über die Sexarbeiterin aus Thailand erfahren wir mehr durch Bilder denn durch Worte, diese gehen aber mindestens genauso unter die Haut.

Wie sind Sie zu diesen Reportagen und Geschichten gekommen?

Klaus Petrus: Ein Buch war so nicht geplant, das hat sich aus meiner journalistischen Arbeit ergeben. Ein Thema, das mich schon länger beschäftigt, sind Bilder, die wir im Kopf von anderen Menschen und Personengruppen haben. Wie diese Bilder und Vorurteile entstehen und sich festsetzen, das hat mich schon immer fasziniert. Und so haben mich auch diejenigen Orte zu interessieren begonnen, an welchen sich Menschen befinden, die den Bildern in unseren Köpfen eben nicht entsprechen. Die Menschen in den Geschichten des Buches brechen alle auf die eine oder andere Art Normen.

Kannten Sie die Menschen, von denen Sie erzählen, schon bevor sich die Idee des Buches konkretisiert hat, oder sind Sie bewusst nach solchen Figuren suchen gegangen?

Ich kam sehr unterschiedlich an diese Menschen heran. Einige kannte ich schon zuvor. Für die Geschichte über den Erntehelfer erhielt ich den Kontakt über eine NGO, die sich für diese billigen Arbeitskräfte einsetzt. In anderen Fällen begegnete ich den Leuten direkt auf der Strasse. So hatte ich bereits eine Reportage über Obdachlose, Sexarbeiterinnen und Drogensüchtige in Bern gemacht und kannte die «Szene» schon ein bisschen. Ich war viel «auf den Gassen» unterwegs, beobachtete die Menschen dort und sprach die Leute an, die ich interessant fand.

Für die Geschichte über den Freier bewegte ich mich lange online in den einschlägigen Freierforen und versuchte so, Kontakt herzustellen. Schwieriger als das Herstellen der Kontakte war es, sie zu halten. Es brauchte viel gegenseitiges Vertrauen, um so nahe an die Menschen heranzukommen.

«Wer am Rand einer Gesellschaft ist und wer nicht, bestimmen seit jeher die, die ‹in der Mitte› sind. Und doch wäre es sonderbar zu bestreiten, dass es sie gibt: Die am Abgrund Stehenden, die Abgehängten und Verlorenen. Es gibt sie schon deshalb, weil wir sie brauchen. Eine Gesellschaft will nämlich wissen,wo oben und wo unten ist.»

Klaus Petrus im Vorwort des Buches

Wie haben Sie es geschafft, dass sich Ihre Gegenüber öffneten und aus ihrem Leben erzählten?

Es brauchte sehr viel Zeit, bis sich ein Vertrauensverhältnis aufbaute. Ich war von Anfang an transparent, indem ich deutlich machte, was das Ziel der Gespräche ist. Und dann wurde natürlich sehr viel geredet. So sprachen wir stundenlang über Fussball, über Tattoos oder sonst etwas. Dabei habe ich auch recht viel über mich preisgegeben. Ich nahm auch erst sehr spät die Kamera hervor.

Die meisten der von mir porträtierten Personen traf ich mehrmals, über einen längeren Zeitraum. Das Verhältnis zwischen uns änderte sich mit der Zeit. Einige öffneten sich immer mehr, andere zogen sich zurück – sei es, weil sie sich in einem Buch zu ausgestellt vorkämen, sei es, weil sich ihre Lebensgeschichte oder ihr Blick auf ihr Leben verändert hatte. Im Buch kommen längst nicht alle Personen vor, mit denen ich sprach.

Die Texte habe ich den Betroffenen im Vorfeld der Publikation gezeigt. Mir war wichtig, dass sie sich darin wiedererkennen, ich wollte nichts zurechtbiegen, nur damit es zum Projekt passt.

Der Langzeitarbeitslose meinte beispielsweise nach dem Lesen des Textes über ihn, dass man das Wesentliche aus seinem Leben eigentlich auf ein paar Zeilen reduzieren könne. Diese Zeilen hat er mir dann auch prompt diktiert. Er geht sehr hart mit sich selbst ins Gericht.

«Draussen, in einem Park zwischen Stuhl und Bank, vor einer Garage, auf einer Treppe, im Gebüsch, unter der Kornhausbrücke. Dort, an einem Pfeiler, wird sich T. auch diese Nacht in ein pinkes Fleece einwickeln, «isch emu gäng öppis», kichert er, der keine fünfzig Kilo mehr wiegt, lieber das als nichts und garantiert besser als in der Stadt, wo ihn die Polizisten zweimal die Nacht aufwecken und fortscheuchen.»

Aus: Aussen vor

Der Autor gibt den Porträtierten in oft sehr direkter und gleichzeitig einfühlsamer Sprache eine Stimme. Wobei er meint: «Ich halte nicht viel von diesem Anspruch, anderen eine Stimme zu geben. Natürlich könnten sie für sich selbst reden. Nur, sie haben keine Position, nichts, das ihnen erlauben würde, aus ihrem Leben zu berichten.»

Er sei sich seiner privilegierten Situation sehr bewusst, es blieb ein Problem bei den Recherchen. Dennoch gelang es ihm, ganz nah an diese Menschen heranzukommen und bei den Leser*innen ebenfalls eine gewisse Nähe zu schaffen.

«Lotti war, wie gesagt, nicht immer arm. Lotti mag (mit mir) nicht reden über: Scham, Krankheit, ihre beste Freundin, wie sie früher aussah, den ältesten Sohn, den Tod. («Und über Gott?», frage ich.«Gibt nicht viel zu sagen über den», meint sie. «Ein Plagöri.»)

Aus: Arme Lotti

Wie reagierten die Menschen auf ihre Geschichten, als Sie sie ihnen vorlegten?

Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Einige wirkten etwas erstaunt darüber, wie sie offenbar nach aussen wirken. Die meisten sahen sich sehr gut wiedergegeben. Speziell war es mit Lotti, mit der ich ja schon vor zig Jahren ins Gespräch kam, nachdem ich sie auf der Strasse immer wieder gesehen hatte. Ich sprach mit ihr damals über Altersarmut und sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte, die ich dann im Strassenmagazin Surprise publizierte. Irgendwann verlor ich sie aus den Augen. Später traf ich sie wieder und sie fand, der Text in Surprise habe überhaupt nichts mit ihr zu tun. Ich war überrascht, aber es war ja eigentlich klar: Der Artikel in Surprise war eingebettet in einen bestimmten Kontext zu Altersarmut. Selbstkritisch muss ich sagen, dass ich ihr Beispiel für den Artikel «missbraucht» hatte – und sie hat das sofort gemerkt.

Diesmal wollte ich es anders machen und ich vereinbarte mit ihr, dass ich nur aufschreiben würde, was sie mir sagte. Sie sollte mir ausserdem aufschreiben, welche Dinge sie gerne im Text hätte und welche nicht. Und sie tat das mit einer unglaublichen Akribie! Daraus entstand dann der Text über Lotti.

So hat also jedes Porträt eine eigene Entstehungsgeschichte?

Ja, aber an alle Geschichten bin ich mit dem gleichen Interesse rangegangen, eben mit der Frage nach den Bildern im Kopf. Und vor allem mit der Frage, wie man mit Scham umgeht. Ich glaube, letztlich ist es ein Buch über Scham. Und welche Welten man sich aufbaut, um mit der Scham leben zu können.

Im Buch «Am Rand» werden sehr unterschiedliche Menschen durch Text und Bild porträtiert. Dabei tun sich verschiedene gesellschaftliche Themen auf, ohne dass sie in den Erzählungen und Gesprächen explizit angesprochen werden müssen – die Geschichten der Menschen reichen dazu völlig: Alkoholismus, Prostitution und Sexarbeit, Altersarmut, häusliche Gewalt und andere mehr. Dabei werden die Personen nie einfach als Opfer der Gesellschaft gezeigt, Klaus Petrus erzählt ihre Geschichten, ohne zu moralisieren. Ungeschönt und mit manchmal recht harter Sprache. Die Schwarz-Weiss-Bilder unterstreichen dabei die Härte des Lebens der gezeigten Menschen. Am Ende des Buches stellt Klaus Petrus hierzu Fakten und Zahlen zusammen und kontextualisiert so den Hintergrund der Porträts.

Auf den ersten Blick gibt es im Buch zwei Arten von Menschen, die sich «ausserhalb der Normen» bewegen: Einerseits diejenigen, die durch die sozialen Maschen gefallen sind – der Arbeitslose, die Sexarbeiterin, der Gastarbeiter. Andererseits porträtieren Sie auch Menschen, die ein durchaus bürgerliches Leben führen, die aber im Privaten ein sexuelles Verhalten an den Tag legen, das nicht der gängigen Moral entspricht: So der Freier, der wöchentlich mehrmals zu Sexarbeiterinnen geht, oder die fast schon biedere Angestellte, die spezielle sexuelle Vorlieben von Männern in Clubs bedient. Diese beiden Gruppen werden jedoch gesellschaftlich nicht gleich stigmatisiert. Die «Etablierten» werden ja nicht beschämt, solange man von ihrer sexuellen Neigung nichts weiss, während der Obdachlose, der Junkie oder die Sexarbeiterin täglich mit Ausgrenzung konfrontiert sind.

Das ist alles richtig. Dennoch gibt es in meinen Augen  eine Gemeinsamkeit: Über all den Geschichten schwebt das Thema der Tabuisierung. Es gibt unterschiedliche Tabus und unterschiedliche Gründe, warum etwas als Tabu gilt. Gemeinsam ist der Versuch der Menschen, trotz dieser Tabus ein «normales» Leben zu führen. Wenn Sie sich beispielsweise mit der Lebenswelt eines Obdachlosen auseinandersetzen, so geht es meist um alltägliche Dinge, um Freundschaften, Beziehungen, Hoffnungen, Wünsche – wie bei allen Menschen. Durch die stereotypen Bilder, die wir von diesen Personen haben, werden sie eben zu «anderen», oder genauer: wir machen sie zu anderen. Es ist unsere Bewertung ihres Lebens, die dazu führt, dass sie einen Teil von sich verbergen müssen – aus Scham.

So müssen auch der Freier und Dorothea, die völlig etablierte Leben führen, ihre Neigungen verstecken, ein Doppelleben führen. Warum wird Dorothea mit ihrem speziellen Hobby von der Gesellschaft dennoch anders bewertet als der Obdachlose?

Ich glaube, daran zeigt sich, wie sehr der Begriff der Normalität von den eigenen Werten bestimmt wird und dass wir sehr klare Vorstellungen davon haben, was die Mitglieder unserer Gesellschaft zu leisten haben. Das war eine der grössten Herausforderungen beim Schreiben dieses Buches: Wie vermeide ich es, meine eigene Haltung durchscheinen zu lassen? Wie gehe ich dabei mit meinen eigenen Werten um? Ich musste versuchen, trotz aller Empathie eine gewisse Distanz wahren, um wertfrei über diese Menschen zu berichten.

Dennoch gibt es diesen Gegensatz zwischen professioneller Distanz und ausreichend Empathie, um sich in diese Menschen einfühlen zu können. Wie gelang Ihnen der Spagat?

Ich habe keine Technik für diesen Balanceakt. Manchmal gelingt er mir auch nicht. Aber ohne Empathie und Neugier kann man andere Menschen nicht verstehen, kann sich nicht vorstellen, wie ihr Leben ist. Dafür muss man die Bilder im Kopf wegschieben. Es braucht viel Offenheit, damit neue Bilder entstehen können.

Welche der Lebensgeschichten ging Ihnen am nächsten?

Das war wohl die Geschichte von Lotti. Ich beschäftige mich schon lange mit Altersarmut und das ist ein Thema, das mich sehr umtreibt. Und Lotti hat so viel zu erzählen. Sie ist so viel mehr als eine arme alte Frau.

Wie erwähnt war mir wichtig, dass sie nicht als Stellvertreterin für das Thema herhalten sollte, sondern dass es nur um sie ging. Denn wenn man anhand einer persönlichen Geschichte ein gesellschaftliches Thema auffächern will, dann wird die Person dahinter immer kleiner und kleiner. Das würde ihr nicht gerecht werden.

Hat das Buch dennoch eine politische Botschaft?

Ich weiss es nicht. Vielleicht ist es ein Appell, das Menschliche nicht zu verlieren, wenn man solchen Leuten begegnet. Oder überhaupt: den Blick zu behalten für das Menschliche im Menschen.

Wenn das Buch dazu beiträgt, Formen der Unsichtbarkeit aufzuzeigen, dann freut mich das.

Dass ein Missstand sichtbar gemacht wird, ist der erste Schritt, damit etwas auf die politische Agenda kommt.

Natürlich gibt es viele politische Themen, die hinter den Geschichten stehen. So zum Beispiel die Situation des Erntehelfers, die die Ausbeutung in der Landwirtschaft thematisieren liesse. Oder der Geflüchtete. Aber ich hätte diese Geschichten so oder so geschrieben, auch ohne politischen Hintergrund.

z

«Auf Werbeplakaten sieht man ihn nicht. Da pflücken Schweizer Landwirte Tomaten, Bäuerinnen schneiden Salate, sie schauen adrett und die Sonne lacht Tag und Nacht und keine tote Krähe weit und breit. Auch im 1500-Seelen-Dorf im Berner Seeland hat man ihn kaum gesehen in all den Jahren – dreizehn, um genau zu sein. Solange schon reist Kamil W. zweimal im Jahr aus einer Kleinstadt unweit von Danzig in die Schweiz und hilft dem Bauer Hofer Michael bei der Ernte.»

Aus: Kamils letzte Kartoffel

Scham enthüllt sich als das zentrale Thema des Buches: die Not, das eigene Leben verstecken zu müssen, von den anderen «bewertet», ja abgewertet zu werden, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Es sind allerdings nicht nur Geschichten von Menschen, die allgemein oft als «Randständige» bezeichnet werden, sondern auch von Menschen wie der mit Adipositas lebenden Benita oder der an Schizophrenie erkrankten Mutter, die beinahe ihr Kind tötet. Ausserdem geht es um Geschichten von Menschen, deren Verhalten nicht der gängigen Sexualmoral der Normgesellschaft entspricht: Da gibt es den Freier, der ein Doppelleben führt, oder um die Diplompsychologin Dorothea, die einmal im Monat spezielle sexuelle Vorlieben von Männern bedient. Menschen also, die gesellschaftliche Normen und Regeln anders durchbrechen, als dass sie durch die sozioökonomischen Maschen der Gesellschaft gefallen wären.

Jede der porträtierten Personen wünschte sich wohl eine bessere Lebenssituation. Dadurch, dass sie «am Rande» sind, entsteht doch automatisch eine politische Forderung, nämlich dass es diesen Rand nicht geben sollte.

Ja, die Gespräche kamen tatsächlich immer an den Punkt, wo ich mich fragte: Wie wäre es für die Leute besser? Alle hatten klare Vorstellungen von zumindest einigen Bereichen, die verändert werden müssten, und nicht wenige empfinden ihre Situation als ungerecht. So oder so ist es nicht leicht, «am Rand» der Gesellschaft zu leben. Das kann sich auch in vermeintlichen Kleinigkeiten äussern. So schreibt sich Lotti beispielsweise auf, welche Ausrede sie wem gegenüber schon verwendet hat. Der Trinker hat eine Liste von Denner-Filialen in der Umgebung, die er abwechselnd besucht, damit die Menge seines Alkohol-Einkaufs nicht auffällt. Diese «Wunschzettel» – wenn man sie so nennen will – machten vor allem eines deutlich: Wie aufwendig es ist, an diesem Rand zu leben und sich oder seine Lebensweise verstecken zu müssen.

Das Buch

Geschichten von Menschen AM RAND der Gesellschaft, von Getriebenen, Eigensinnigen, Abgehängten, Unsichtbaren.

Reportagen und Porträts von Klaus Petrus
Christoph Merian Verlag, 2023

Klaus Petrus war bis 2012 Philosophieprofessor an der Universität Bern. Seither arbeitet er als Fotojournalist und Reporter und ist Redakteur beim Strassenmagazin Surprise. Er berichtet aus der Schweiz, dem Balkan und dem Nahen Osten; seine Themen sind vor allem Armut, Ausgrenzung, Migration und Kriege. 2022 wurde er für sein Langzeitprojekt über Migration mit dem Swiss Press Photo Award ausgezeichnet, 2023 für eine Fotoserie über Erntehelfer im Berner Seeland.

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