Auf den ersten Blick gibt es im Buch zwei Arten von Menschen, die sich «ausserhalb der Normen» bewegen: Einerseits diejenigen, die durch die sozialen Maschen gefallen sind – der Arbeitslose, die Sexarbeiterin, der Gastarbeiter. Andererseits porträtieren Sie auch Menschen, die ein durchaus bürgerliches Leben führen, die aber im Privaten ein sexuelles Verhalten an den Tag legen, das nicht der gängigen Moral entspricht: So der Freier, der wöchentlich mehrmals zu Sexarbeiterinnen geht, oder die fast schon biedere Angestellte, die spezielle sexuelle Vorlieben von Männern in Clubs bedient. Diese beiden Gruppen werden jedoch gesellschaftlich nicht gleich stigmatisiert. Die «Etablierten» werden ja nicht beschämt, solange man von ihrer sexuellen Neigung nichts weiss, während der Obdachlose, der Junkie oder die Sexarbeiterin täglich mit Ausgrenzung konfrontiert sind.
Das ist alles richtig. Dennoch gibt es in meinen Augen eine Gemeinsamkeit: Über all den Geschichten schwebt das Thema der Tabuisierung. Es gibt unterschiedliche Tabus und unterschiedliche Gründe, warum etwas als Tabu gilt. Gemeinsam ist der Versuch der Menschen, trotz dieser Tabus ein «normales» Leben zu führen. Wenn Sie sich beispielsweise mit der Lebenswelt eines Obdachlosen auseinandersetzen, so geht es meist um alltägliche Dinge, um Freundschaften, Beziehungen, Hoffnungen, Wünsche – wie bei allen Menschen. Durch die stereotypen Bilder, die wir von diesen Personen haben, werden sie eben zu «anderen», oder genauer: wir machen sie zu anderen. Es ist unsere Bewertung ihres Lebens, die dazu führt, dass sie einen Teil von sich verbergen müssen – aus Scham.
So müssen auch der Freier und Dorothea, die völlig etablierte Leben führen, ihre Neigungen verstecken, ein Doppelleben führen. Warum wird Dorothea mit ihrem speziellen Hobby von der Gesellschaft dennoch anders bewertet als der Obdachlose?
Ich glaube, daran zeigt sich, wie sehr der Begriff der Normalität von den eigenen Werten bestimmt wird und dass wir sehr klare Vorstellungen davon haben, was die Mitglieder unserer Gesellschaft zu leisten haben. Das war eine der grössten Herausforderungen beim Schreiben dieses Buches: Wie vermeide ich es, meine eigene Haltung durchscheinen zu lassen? Wie gehe ich dabei mit meinen eigenen Werten um? Ich musste versuchen, trotz aller Empathie eine gewisse Distanz wahren, um wertfrei über diese Menschen zu berichten.
Dennoch gibt es diesen Gegensatz zwischen professioneller Distanz und ausreichend Empathie, um sich in diese Menschen einfühlen zu können. Wie gelang Ihnen der Spagat?
Ich habe keine Technik für diesen Balanceakt. Manchmal gelingt er mir auch nicht. Aber ohne Empathie und Neugier kann man andere Menschen nicht verstehen, kann sich nicht vorstellen, wie ihr Leben ist. Dafür muss man die Bilder im Kopf wegschieben. Es braucht viel Offenheit, damit neue Bilder entstehen können.
Welche der Lebensgeschichten ging Ihnen am nächsten?
Das war wohl die Geschichte von Lotti. Ich beschäftige mich schon lange mit Altersarmut und das ist ein Thema, das mich sehr umtreibt. Und Lotti hat so viel zu erzählen. Sie ist so viel mehr als eine arme alte Frau.
Wie erwähnt war mir wichtig, dass sie nicht als Stellvertreterin für das Thema herhalten sollte, sondern dass es nur um sie ging. Denn wenn man anhand einer persönlichen Geschichte ein gesellschaftliches Thema auffächern will, dann wird die Person dahinter immer kleiner und kleiner. Das würde ihr nicht gerecht werden.
Hat das Buch dennoch eine politische Botschaft?
Ich weiss es nicht. Vielleicht ist es ein Appell, das Menschliche nicht zu verlieren, wenn man solchen Leuten begegnet. Oder überhaupt: den Blick zu behalten für das Menschliche im Menschen.
Wenn das Buch dazu beiträgt, Formen der Unsichtbarkeit aufzuzeigen, dann freut mich das.
Dass ein Missstand sichtbar gemacht wird, ist der erste Schritt, damit etwas auf die politische Agenda kommt.
Natürlich gibt es viele politische Themen, die hinter den Geschichten stehen. So zum Beispiel die Situation des Erntehelfers, die die Ausbeutung in der Landwirtschaft thematisieren liesse. Oder der Geflüchtete. Aber ich hätte diese Geschichten so oder so geschrieben, auch ohne politischen Hintergrund.
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